Unsere Arbeits- und Berufswelt ist durch einen hohen Anteil wissenserzeugender, -integrierender und -koordinierender Tätigkeiten gekennzeichnet, die man als "Wissensarbeit" oder "Knowledge Work" bezeichnet. Einfacher formuliert sind Wissensarbeitende Menschen, deren Hauptkapital Wissen ist, von der Lehrperson über den Pflegefachmann und die Programmiererin bis hin zum Rechtsanwalt. Bis vor wenigen Jahren galt Wissensarbeit immer als ein vor Automatisierung verhältnismässig gut geschützter Bereich, da kognitive Leistungen gefragt sind, die bisher kaum durch eine Maschine bewältigt werden konnten. Dieses Bild bekommt nun aber zunehmend Risse, nicht erst seit OpenAI und dem kürzlich viral gegangenen Chatbot ChatGPT.
Beat Hauenstein: Peter Kels, Sie sind Leiter des Projekts «Knowledge Work im digitalen Wandel». Sie gehen davon aus, dass auch bei Wissensarbeitenden gravierende Veränderungen in den beruflichen Kompetenz- und Entwicklungsanforderungen zu erwarten sind. Wie verändern sich denn die beruflichen Identitäten und Kompetenzanforderungen von Wissensarbeitenden in der Schweiz durch die Digitalisierung?
Peter Kels:
Die Digitalisierung als globaler Megatrend führt nicht nur zu neuen Anwendungen, Leistungsangeboten oder Geschäftsprozessen, sondern transformiert auch Branchen, Organisationen und Berufe. Mit ihr geraten eingespielte berufliche Rollenverständnisse, Arbeitsweisen und Kompetenzanforderungen unter Veränderungsdruck. Die heutige Arbeitsrealität vieler Wissensarbeitender ist geprägt durch starken Zeitdruck beim Bearbeiten komplexer Aufgabenstellungen und nicht hinreichender Unterstützung des Arbeitgebers beim Aufbau neuer Kompetenzen. Die Digitalisierung könnte theoretisch dazu beitragen, Wissensarbeitende von Routineaufgaben zu entlasten und etwas Druck «aus dem Kessel» zu nehmen. In der Realität aber geht die Digitalisierung häufig mit einer zunehmenden Arbeitsverdichtung einher, z.B. durch die gestiegenen Erwartungen an eine Echtzeitkommunikation über eine Vielzahl digitaler Kanäle. Unsere Forschung zeigt, dass Wissensarbeitende Bewältigungsstrategien entwickeln, um der erlebten Unvereinbarkeit zwischen entgrenzter Arbeit, fehlenden Ressourcen und eigenen Ansprüchen an eine professionelle, sinnstiftende und selbstbestimmte Berufsausübung zu begegnen.
Beat Hauenstein: Gibt es im Bereich Knowledge Work Berufsfelder, bei denen sich Tätigkeits- und Kompetenzprofile grundlegend verändern werden und wo die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsfähigkeit von Wissensarbeitenden unter Druck gerät?
Kai Dröge:
Einige Berufsfelder hat es schon jetzt hart getroffen. Wir haben im Rahmen des Projektes zum Beispiel Journalistinnen und Journalisten befragt. Dort hatte der digitale Medienwandel der letzten Jahre wirklich desaströse Konsequenzen. Die Arbeitsbedingungen sind extrem prekär geworden, die Stimmung in vielen Redaktionen schlecht. Es gibt einen grossen Braindrain aus diesem Bereich, wir verlieren viel journalistische Kompetenz und Herzblut in der Schweiz. Und jetzt kommen als nächste Welle die KI-generierten Texte, es wird also nicht unbedingt besser.
Insgesamt muss man aber sagen, dass eigentlich kaum ein Berufsfeld von diesem Wandel ausgenommen ist. Auch die qualifizierte Wissensarbeit ist nicht mehr der sichere Hafen, wo man von den Effekten der Automatisierung verschont bleibt. Allerdings entstehen durch die Digitalisierung auch viele neue Geschäfts- und Tätigkeitsfelder. Ausserdem haben wir in vielen Bereichen Fachkräftemangel und Leute werden händeringend gesucht. Da gibt es also durchaus Potential.
Beat Hauenstein: Welche Haltungen, Fähigkeiten und Bewältigungsstrategien müssen sich Wissensarbeitende denn aneignen, um beruflich wie persönlich mit dieser Transformation umzugehen zu können?
Peter Kels:
Wissensarbeitende benötigen über die viel zitierten „digital skills“ hinaus auch geeignete Ressourcen und Copingstrategien, damit sie – anstatt unter die Räder zu geraten – die Rolle aktiver Mitgestalter*innen der digitalen Transformation und ihrer eigenen beruflichen Biografie übernehmen können. Neugierde und Offenheit, Experimentiergeist, Reflexionsvermögen wie auch eine proaktiv-selbstbestimmte Karrieregestaltung stellen entscheidende individuelle Ressourcen dar, um in bewegten Zeiten arbeitsmarktfähig und intellektuell beweglich zu bleiben, ohne hierbei die eigenen Werte aus dem Auge zu verlieren. In der Praxis kann dies - das zeigt unsere Forschung - auch dazu führen, dass radikale Karrierepfad- und Berufswechsel nötig werden, man also seinem angestammten Beruf «adieu» sagt.
Beat Hauenstein: Welche Rahmenbedingungen und zielgruppenspezifischen Beratungs- und Unterstützungsangebote helfen betroffenen Arbeitnehmenden, arbeitsmarktfähig zu bleiben? Was für eine Bedeutung haben Betriebe und Führungskräfte?
Kai Dröge:
Drei Punkte sind aus meiner Sicht besonders wichtig. Zum ersten müssen wir Digitalisierung ganzheitlich betrachten. Hier geht es nicht nur um einen technischen Wandel, sondern um eine neue Arbeitskultur, um «New Work». Da ist es mit ein paar Computerkursen nicht getan. Diese Kultur muss gelebt werden. Dazu braucht es Freiräume für die Beschäftigten und die Sicherheit, ausgetretene Pfade verlassen zu dürfen.
Zum zweiten ist wichtig, das Unternehmen offener werden für unkonventionelle Berufsbiografien, für Quereinsteiger, buntere Karrieren und Lebensentwürfe. Es kann ja nicht sein, dass wir den Beschäftigten eine stete Veränderungsbereitschaft predigen, aber die daraus resultierenden Lebensläufe dann in Bewerbungsverfahren immer gleich aussortiert werden.
Drittens schliesslich sollten wir nicht jede Skepsis von Beschäftigten gegenüber digitalen Wandlungsprozessen mit Starrköpfigkeit und mangelnder Veränderungsbereitschaft gleichsetzen. Unternehmen brauchen den produktiven Streit zwischen jenen, die digitale Technologien euphorisch begrüssen und jenen, die einen kühlen Kopf bewahren und den neusten Hype auch kritisch auf seine realistischen Chancen hin abklopfen.
Peter Kels und Kai Dröge, herzlichen Dank für das Gespräch.