Vom Erdöl zur Orgel
Wenn Marco Brandazza von seiner Laufbahn erzählt, spannt er den Bogen weit, von den Gesteinsschichten der italienischen Riviera bis zu den Pfeifen und Windladen der Innerschweiz. Der gebürtige Italiener, Paläontologe und später Organist, ist eine Persönlichkeit, die Wissenschaft und Musik verbindet.
«Mein Doktorat waren rund 20’000 Muscheln aus dem Pliozän in Albenga», erzählt er mit einem Schmunzeln. Damals forschte er an der Schnittstelle von Paläontologie und Erdölgeologie, bis ihn die Liebe in eine andere Richtung führte.
Nach dem Militärdienst in Savona folgte er seiner Partnerin Eva in die Schweiz. Eva, eine Zürcherin, verbrachte damals ihre Sommer in Varigotti, wo sich die beiden kennenlernten. «Sie hat mich vor die Wahl gestellt: Helikopter oder sie», sagt er lachend. Damals arbeitete er auf Bohrinseln vor der Adria. Er wählte sie, die Schweiz und damit die Musik.
Ein Neuanfang in Luzern
In Luzern begann ein neuer Lebensabschnitt. Brandazza durfte bei der international renommierten Organistin Monika Henking vorspielen. «Ich konnte kein Wort Deutsch, aber sie sagte: Mit dir kann man etwas machen.»
Er studierte Orgel, Kirchenmusik, Dirigieren und später Gregorianischen Choral und wurde schliesslich Assistent von Alois Koch an der Jesuitenkirche Luzern.
Seine naturwissenschaftliche Denkweise blieb ihm erhalten. «Wahrscheinlich war ich nicht so unbegabt», sagt er trocken. Bald verband er analytische Präzision mit musikalischer Sensibilität. Eine Kombination, die später zur Grundlage seiner Arbeitsweise im Orgelwesen werden sollte: dem Orgeldokumentationszentrum (ODZ).
Die Geburt des Orgeldokumentationszentrums
«Es war ein harziger Anfang», erinnert sich Brandazza. Die Hochschule befand sich in einer Phase des Umbruchs, die Finanzierung war unsicher. Doch mit Ausdauer, Geduld und Überzeugungskraft gelang es ihm, Denkmalämter verschiedener Kantone zu gewinnen: zunächst Luzern, dann Zug, Schwyz, Uri und schliesslich das Tessin.
Sein Ziel: die Orgeln der Schweiz systematisch zu erfassen, wissenschaftlich zu dokumentieren und ihre Geschichte nachvollziehbar zu machen. «Wir arbeiten seriös und nachvollziehbar», betont er. Heute gilt das ODZ als wichtige Referenzstelle für die Orgelforschung in der Schweiz.
Forschung mit Leidenschaft
Brandazza ist stolz auf die Gründlichkeit seiner Arbeit, weiss aber auch, dass sie in einem künstlerischen Umfeld nicht immer leicht vermittelbar ist. «In der Orgelwelt wird wissenschaftliche Forschung manchmal mit Vorsicht betrachtet», sagt er. Ihm sei es wichtig, unabhängig zu bleiben und Projekte auf eine solide Grundlage zu stellen. Ein Ansatz, der ihm über die Jahre das Vertrauen vieler Fachstellen und Denkmalämter eingebracht hat.
«Ich wollte immer, dass unsere Arbeit überprüfbar und transparent ist», erklärt er. Dieser Anspruch prägt auch seine Datenbank: Sie dokumentiert heute über 500 Orgeln aus der Zentralschweiz, jede einzeln geprüft, beschrieben und archiviert.
Die Kunst der Präzision
Die Arbeit des ODZ basiert auf einer Checkliste, die in den 1980er-Jahren an der Universität Zürich entwickelt wurde. Brandazza hat sie weiterentwickelt und mit akribischer Archivarbeit ergänzt.
«Wir gehen in jedes Archiv und vergleichen alles mit der bestehenden Literatur», sagt er. So konnte er etwa erstmals nachweisen, wer im Jahr 1504 die Orgel der Kirche St. Michael in Zug gebaut hatte. Ein Fund, der nur dank geduldiger Recherche in alten Ratsprotokollen gelang.
Doch Brandazza weiss: Orgeln leben. «Du kannst alle Autos in einer Garage zählen, aber niemand kann garantieren, dass sie in einem Jahr noch da stehen», sagt er mit einem Lächeln. Auch seine Forschung bleibt im Fluss.
Ein europäischer Geist mit Schweizer Herz
Nach 38 Jahren in der Schweiz wurde Brandazza Ende September pensioniert. Auch nach seiner aktiven Zeit an der Hochschule möchte er der Orgelwelt verbunden bleiben, als Forscher, Berater und Musiker.
Am Ende des Gesprächs spricht Brandazza über die Zukunft der Musiklandschaft: «Damit man europäisch fühlen kann, verliert man manchmal das, was die Schweiz stark gemacht hat: ihre Vielfalt, ihre Eigenheiten.»
Er sagt es ohne Bitterkeit, aber mit Nachdruck. Für ihn ist Vielfalt – ob in Wissenschaft, Musik oder Kultur – ein Wert, den es zu bewahren gilt.