Beat Hauenstein: Der Lehrpersonenmangel ist in aller Munde. Wie konnte es so weit kommen?
Lukas Lehmann: Beim Lehrpersonenmangel handelt es sich um ein wiederkehrendes Problem. Die derzeitige Variante ist zu guten Teilen zurückzuführen auf den Anstieg von Schüler*innen sowie die Pensionierungswelle der Baby-Boomer-Generation. Sie wurde bereits in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre prognostiziert. Die tatsächliche Ausprägung ist jedoch nicht so einfach vorauszunehmen, wie man denken möchte. Sie hängt auch vom Verbleib der Lehrperson im Beruf ab, von der Entwicklung der Pensen, der Klassengrössen in jedem spezifischen geografischen Perimeter. Zudem sind die Zahlen je Kanton sehr unterschiedlich, die hohe Mobilität der Lehrpersonen - und auch der Schülerinnen und Schüler - erschwert die Prognose dann noch zusätzlich.
Aktuell werden verschiedene Massnahmen diskutiert und umgesetzt. Wie schätzen Sie diese ein?
In Diskussion sind grössere Klassen, die zwangsweise oder freie Erhöhung des Pensums, der Einsatz von Personen ohne Lehrdiplom. Ich habe volles Verständnis dafür, dass man kurzfristig Lösungen sucht. Man muss sich aber bewusst sein, dass diese Massnahmen mittel- und längerfristig auch negative Konsequenzen für die Schule, die Qualität und die Effizienz der Schulen haben können.
Welche wären das konkret?
Spätestens seit Mitte der 1990er Jahren hat man die Lehrpersonenausbildung grundlegend reformiert und mit der Gründung der Pädagogischen Hochschulen in Hochschulen überführt. Dies geschah zu grossen Teilen auch mit Hinblick auf die Attraktivität des Berufs, nicht zuletzt, weil ähnliche Berufe, z.B. im Gesundheits-, im technischen und kulturellen Bereich bereits auf Hochschulstufe angesiedelt waren. Um nicht an Anziehungskraft gegenüber diesen einzubüssen, wollte man gleichziehen. Die Message, welche aktuell folgt: Alle, die möchten, können vor eine Klasse treten, auch ohne Ausbildung. Das ist fatal für das Ansehen und die Akzeptanz des Lehrberufs. Zudem bringt die Situation mit dem Einsatz von Nicht-Qualifizierten natürlich auch mächtig Unruhe ins Arbeitszimmer der Lehrkräfte – nämlich dann, wenn erfahrene Lehrpersonen die schwierigen Momente kompensieren müssen und dadurch gar einer Höherbelastung ausgesetzt sind.
Der Schweizerische Bildungsbericht 2018 zeigt auf, dass mit einer Erhöhung der Beschäftigung um 10% das Problem des Mangels bereits behoben wäre. Liegt die Lösung also im Festlegen eines Minimalpensums, so wie dies derzeit in verschiedenen Kantonen gefordert wird?
Nicht nur gefordert, sondern in einigen wenigen Kantonen auch umgesetzt. Von einem «Zwang» halte ich aber nicht viel, es wäre auch nicht gerade ein Attraktivitätsmerkmal.
Zuerst einmal ist festzuhalten, dass gemäss Bundesamt für Statistik nur gerade 10% der Lehrpersonen weniger als 50% arbeiten. Das vermutete Problem der Kleinstpensen betrifft also nur einen kleinen Teil der Lehrpersonen. Vielmehr müsste man doch auf die Gründe eingehen und dort ansetzen.
Was wären aus Ihrer Sicht dann mögliche Lösungen aus dem Dilemma?
Wie gesagt: kurzfristiges Reagieren ist immer heikel. Aber mittelfristig gäbe es aus meiner Sicht schon Alternativen, die es sich zu testen lohnen würde. Ein grosses Problem ist aus meiner Erfahrung der Übertritt von der Ausbildung ins Berufsleben. Oft werden hier mehr Praxisanteile in der Ausbildung gefordert. Das ist meines Erachtens aber der falsche Weg – zumal es in den heutigen Ausbildungen entgegen der Behauptungen bereits viel mehr schulpraktische Elemente gibt als früher. Und der so genannte «Praxisschock» wird damit nicht behoben. Da die Fluktuation aber am Anfang der Berufsphase am höchsten ist, wäre es richtig und wichtig, den Berufseinsteiger*innen mehr Unterstützung zu bieten. Ein solches Coaching- und Begleitungsprogramm könnte aber auch für Lehrpersonen offen sein, welche schon eine gewisse Zeit im Berufsleben drin sind. Denn die Forderung nach besserer Vereinbarkeit von Beruf und Privatem betrifft ja nicht nur die junge Generation.
Wie stehen Sie zur Forderung, der Lehrberuf müsse einfach besser entlöhnt werden? Dann würden sich schon genügend Personen finden.
Die Lohnfrage wird oft als zentrales Steuerungsinstrument angesehen. Und natürlich ist sie für den Berufs- und Beschäftigungsentscheid wichtig. Man konnte jedoch auch gegenteilige Effekte feststellen, nämlich dass bei einer Lohnerhöhung der Beschäftigungsgrad runter ging. Die Lohnerhöhung hat dann also eine negative Auswirkung auf den Lehrpersonenmangel. Zentraler scheint mir in diesem Zusammenhang die Anpassung oder Annäherung der Löhne über die verschiedenen Lehrerkategorien hinweg. Dass Primarlehrpersonen im Kanton Luzern um 35% weniger verdienen als ihre Kolleginnen und Kollegen auf gymnasialer Stufe ist aus pädagogischer Sicht nicht zu legitimieren: Denn was die einen fachlich mehr investieren müssen, investieren andere in die erzieherisch-pädagogische Arbeit.
Gibt es weitere Massnahmen, welche zur Behebung beitragen könnten?
Es wäre aus meiner Sicht nötig, sich ein paar Gedanken über die Schulorganisation zu machen. Bis anhin ist es so, dass in der Regel ein oder mehrere Lehrpersonen zuständig sind für eine Klasse. Diese Einheit verschiebt sich stets als Paket und ist relativ starr. Es wäre ein Versuch wert, diese starren Strukturen aufzubrechen: Warum nicht mal eine Runde Mathematik in einer grösseren Gruppe, dafür einen Teil RZG (Räume-Zeiten-Gesellschaften) in kleineren Einheiten? Die Flexibilität, Unterricht auch anders stattfinden zu lassen, ist derzeit sehr klein. Eine solche Flexibilisierung würde natürlich die Schulleitungen sehr fordern. Sie würde sich aber vielleicht auch positiv auf die Entwicklungsmöglichkeiten im Beruf auswirken. Und sie gäbe Raum für neue Jobprofile in der Schule.
Können Sie das noch etwas ausführen?
Es ist ja nicht so, dass es in der Schule für jeden Moment eine vollumfängliche Didaktikausbildung braucht. Es gibt viele Momente, wo es auch einfach drum geht, die Schüler*innen beieinander zu halten, sie aufzumuntern, sie zu unterstützen. Oder auch einfach dafür zu sorgen, dass 22 Kindergartenkinder ihre Schlittschuhe anziehen. Für solche Tätigkeiten gäbe es meines Erachtens die Möglichkeit, Klassenassistenzen einzusetzen – so wie dies derzeit behelfsmässig passiert. Der Einsatz solcher Personen könnte aber systematisiert werden, diese Personen müssten eine Berufsausbildung erhalten und einen klaren Auftrag. Dann könnten sie relativ niederschwellig den Unterricht und die verantwortliche Lehrperson unterstützen, ohne diese zusätzlich zu belasten.
Lukas Lehmann ist Programmleiter des CAS Educational Management and Governance. Es bietet eine ganzheitliche Sicht auf das Bildungswesen, beleuchtet zentrale und periphere Akteure und vermittelt betriebswirtschaftliche Instrumente und Ressourcen. Das Weiterbildungsprogramm bietet eine Vertiefung in unterschiedlichen Praxen der Bildungsverwaltung und -steuerung, sowohl aus bildungspolitischer wie aus betriebswirtschaftlicher Sicht. Weitere Informationen: https://www.hslu.ch/de-ch/wirtschaft/weiterbildung/cas/ibr/cas-educational-management-and-governance/
Info-Veranstaltungen
Programmstart: 11. Mai 2023
Anmeldeschluss: 31. März 2023