von Isabel Baumberger
«Das Erstaunlichste an der Schweiz ist, dass man hier so wenig Zeit mit Warten verbringt», sagt Melissa Schramm, die in Chicago Urban Planning and Policy mit Schwerpunkt Stadtverkehr studiert. «Diese Pünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel können wir uns in Chicago kaum vorstellen», erklärt sie schmunzelnd. Ihr Kommilitone Andrew Buchanan studiert ebenfalls Urban Planning and Policy, ist aber auf soziokulturelle Aspekte fokussiert. Er macht auf die Kehrseite der Schweizer Fahrplantreue im öffentlichen Verkehr aufmerksam: «Es gibt hier weniger belebte Wartezonen, wo man sich die Zeit vertreibt und vielleicht miteinander ins Gespräch kommt.» Schramm und Buchanan sind zwei von 16 Studierenden, die sich Ende Juni 2015 an der internationalen Summer School der Hochschule Luzern zusammen mit dem Thema «Interdisciplinary urban and community planning» auseinandersetzen. Beteiligt im Sinne der Interdisziplinarität sind neben dem Departement Soziale Arbeit auch das Departement Technik & Architektur und der Interdisziplinäre Schwerpunkt Kooperation Bau und Raum der Hochschule Luzern. Eine Woche lang hört man Impulsreferate und schaut sich verschiedene Projekte an – etwa das «BaBel»-Projekt zur Aufwertung eines lange vernachlässigten Quartiers in Luzern und das «Tourismusresort Andermatt», das von der Hochschule Luzern mit einer soziokulturellen Langzeitstudie begleitet wird. Auch das Luzerner «Neubad», ein kulturell und kreativwirtschaftlich umgenutztes altes Schwimmbad, lernen die Teilnehmenden kennen. «Solche Projekte sind für unsere Studierenden besonders interessant», meint Janet L. Smith, PhD, Professorin für Urban Planning and Policy an der University of Illinois at Chicago. «Bei uns kennen wir diese Art von Zwischennutzung und gemeinschaftlicher Kreativwirtschaft noch zu wenig, deshalb war der Besuch im ‹Neubad› eine inspirierende Erfahrung. Auch die Art der demokratischen Mitsprache in der Schweiz gibt uns neue Impulse.»
Denkanstösse in der Quartierentwicklung
Umgekehrt gebe es in Chicago soziokulturelle Ansätze, die in der Schweiz noch kaum praktiziert würden, sagt die Vizedirektorin und Leiterin des Instituts für Soziokulturelle Entwicklung, Colette Peter. Sie ist in der Schulleitung für das Ressort Internationales und damit auch für die neue Zusammenarbeit mit Chicago verantwortlich. «Mich faszinierten dort als Erstes die Kunstprojekte, die man in der Quartierentwicklung einsetzt. Bei uns gibt es zwar auch Kunst im öffentlichen Raum, aber dass Kunstschaffende zusammen mit Bewohnerinnen und Bewohnern in einem Quartier etwas gestalten, geschieht noch selten», erläutert Peter. «Oder nehmen wir die Rolle von Schulen in Chicagos Neighborhoods: Sie fungieren – vor allem in benachteiligten Quartieren – als Zentren, die offen für Aktivitäten der Quartierbevölkerung sind und in denen verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten. Da liegt bei uns noch einiges brach.»
Gemeinsame Werthaltungen
Peter ist von der Zusammenarbeit mit der neuen Partner-Universität Chicago begeistert. «Internationale Partnerschaften sind für uns nicht einfach ein schickes Marketingvehikel, sondern nur dann interessant, wenn uns ein gemeinsames fachliches Engagement verbindet und wir uns gegenseitig befruchten können. In der Verbindung mit Chicago ist das in idealer Weise der Fall.» Dazu komme die symbolische Bedeutung der Stadt am Michigansee für die Soziale Arbeit. «Die Chicagoer Pionierin Jane Addams gilt als Begründerin der Quartierarbeit und interessierte sich schon Anfang des 20. Jahrhunderts dafür, in welchen Quartieren welche Einkommensverhältnisse und sozialen Bedingungen herrschten. Damit kreierte sie das sozialräumliche Denken, das in unserer heutigen soziokulturellen Arbeit ein zentrales Element ist.» Auch das College of Urban Planning and Public Affairs in Chicago (CUPPA) befasse sich nicht nur mit planerischen, sondern auch mit sozialen Fragen – genau wie die Hochschule Luzern dies unter anderem in ihrem interdisziplinären Weiterbildungsmaster in Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung tut. Peter sieht die internationale Summer School als Auftakt einer facettenreichen Zusammenarbeit, die auch gemeinsame Forschungsprojekte umfassen soll. Dabei will sie Wege finden, zusammen an Projekten zu arbeiten, ohne Umwelt und Budget durch zahlreiche Überseereisen zu strapazieren.
Interdisziplinäre Lösungsansätze
Auch für Janet L. Smith, die an der Summer School nicht nur ihre Vorlesung hielt, sondern die ganze Woche an den zahlreichen Veranstaltungen teilnahm, ist die Partnerschaft mit Luzern ein grosser Gewinn. Dass man ähnliche Werthaltungen und Ideen habe, sei schon vor etlichen Jahren klar geworden, als Alex Willener, Soziokultur-Dozent aus Luzern, ein Sabbatical in Chicago verbrachte. Auf diese Begegnung gehe die heutige Partnerschaft zurück, sagt Smith. Und: «So verschieden die beiden Städte sind, so ähnlich sind dennoch die Themen der Diskussion über ihre Entwicklung. Der Umgang mit Migration und sozialen Spannungen, mit Veränderungen von Quartieren, Fragen zur Partizipation, die Situation von Jugendlichen – diese Herausforderungen beschäftigen uns in Chicago genauso wie die Fachleute hier, wenn auch die Ausprägungen der Probleme anders sind.» Besonders interessant findet Smith die interdisziplinären Lösungsansätze, die sie an der Hochschule Luzern kennengelernt hat: «Bei uns sind Stadtentwicklung und Soziale Arbeit viel weiter voneinander entfernt als hier, wo sich diese Disziplinen in der soziokulturellen Arbeit treffen.»
Bereichernder Austausch – neue Ideen
Am Ende der internationalen Summer School präsentieren Studierende in vier aus jeweils zwei Ländern zusammengesetzten Gruppen ihre Lernberichte. Munter vergleichen sie das Luzerner «BaBel»-Quartier mit Chicago und Nürnberg sowie ein Nürnberger Stadtentwicklungsprojekt mit einem aus Birsfelden. Dabei werden gemeinsame Themen wie etwa Verdichtung, Umnutzung und Quartieraufwertung herausgearbeitet und Vorschläge zur Verbesserung gemacht. Und welche «Learnings» nehmen die beiden Studierenden Melissa Schramm und Andrew Buchanan mit zurück nach Chicago? «Ich habe viel gelernt in dieser Woche – unter anderem über den öffentlichen Raum, der hier in Luzern lebhafter genutzt wird als bei uns», sagt Buchanan. «Und weil die anderen Studierenden so viel über Chicago wissen wollten, musste ich auch über meine Stadt neu nachdenken, das war anregend.» Auch Schramm fand das Programm der Woche spannend, den Austausch mit den Mitstudierenden bereichernd. Als angehende Verkehrsplanerin besonders beeindruckt hat sie zusätzlich etwas ganz anderes: «Davon, dass man Zugverbindungen so aufeinander abstimmen kann, wie das hier gemacht wird, habe ich noch nie gehört. Wie heisst das? Taktfahrplan? Genial.»
Dieser Artikel ist in der Publikation «Soziale Arbeit», Ausgabe Oktober 2015, erschienen.