Interview: Eva Schümperli-Keller
Dorothee Guggisberg, in den 1990er-Jahren waren Sie ein halbes Jahr für ein Hilfswerk im bolivianischen La Paz tätig, das auf über 3’000 Metern über Meer liegt. Ich gehe deshalb davon aus, dass Sie dünne Luft gut vertragen. Eine Leitungsfunktion verlangt wohl eine robuste Konstitution …
Ich verstehe mich als Teil eines Ganzen und übernehme an der Hochschule Luzern eine bestimmte Funktion in einem gut funktionierenden Gefüge. Entscheide kann ich auf ein kompetentes Team abstützen. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Luft nicht allzu dünn werden wird. Aber die Höhe in La Paz hat mir tatsächlich keine Mühe bereitet. Zwischen meinem Wohn- und dem Arbeitsort, einer Beratungsstelle für Frauen, musste ich täglich tausend Höhenmeter bewältigen. Das ging problemlos.
Sie haben als Mutter dreier Kinder Karriere gemacht. Welche Tipps geben Sie jungen Menschen, die Beruf und Familie vereinbaren möchten?
Ich hatte zum Glück immer gute Arbeitsbedingungen. Durch Beruf, Familie und Weiterbildungen war ich eng getaktet, arbeitete oft auch am Wochenende oder nachts, wenn der Nachwuchs im Bett war. Mein Partner hat seinen Part übernommen. Ausserdem hatten wir eine tolle Tagesstätte für die Kinder, und wenn alle Stricke rissen, konnten wir uns auf unser Netzwerk aus Verwandten und Bekannten verlassen. Man muss sich darauf einstellen, dass mit Kindern immer etwas ist – und es wenn möglich mit Humor nehmen.
Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus?
Ich gehe aus dem Haus, wenn die ganze Familie noch schläft, und nehme den Zug um 6 Uhr. Um 7.15 Uhr treffe ich in der Hochschule ein und gönne mir als Erstes eine Tasse Kaffee. Anschliessend jagt meist ein Termin den anderen: Sitzungen, Arbeitslunch, Besprechungen. Ich mag es dynamisch, und wenn zwischendurch jemand zur Tür reinschaut, dann freue ich mich über diese Art der Begegnung. Natürlich gibt es auch ruhige Momente, dann vertiefe ich mich in Dokumente und die aktuellen Geschäfte. Ich versuche nach Möglichkeit, um 18 oder 19 Uhr zu Hause zu sein. Ich habe mit meinen Kindern die Erfahrung gemacht, dass das die Tageszeit ist, in der sie reden wollen. Die jüngste Tochter wohnt noch zu Hause, ausserdem lebt ein Gastschüler aus der welschen Schweiz bei uns. Die mittlere Tochter studiert Psychologie in Basel und kommt nur am Wochenende nach Hause, der Älteste hat eine eigene Wohnung.
Auf was in Ihrer Karriere sind Sie besonders stolz?
Ich bin einfach dankbar, dass alles miteinander möglich war, dass alles irgendwie zusammenpasste.
Wie halten Sie Ihre Work-Life-Balance im Lot?
Ich bewege mich gerne. Wann immer ich kann, gehe ich in die Berge. Auf meinen Touren finde ich wunderbaren Ausgleich. Ich tanze auch gerne, und ab und zu mache ich Yoga. Ich finde es auch schön, mich hin und wieder um «Haus und Hof» zu kümmern, im Herbst mal Quittengelee zu machen. Ausserdem gehe ich gerne an Veranstaltungen und Ausstellungen und lese viel.
Welches kürzlich gelesene Buch hat Sie besonders beeindruckt?
«Bilal» von Fabrizio Gatti. Der italienische Journalist berichtet darin Erschütterndes über die gefährliche Reise afrikanischer Migrantinnen und Migranten nach Europa. Er schliesst sich ihnen an und lässt sich auf Lampedusa als vermeintlicher irakischer Flüchtling Bilal in ein Lager stecken, wo er furchtbare Zustände antrifft. Das Buch hat mich sehr berührt, weil es das Flüchtlingsleid, von dem wir täglich aus den Nachrichten erfahren, in einen Zusammenhang stellt und ihm ein Gesicht gibt.
Sie pendeln seit Jahren, aktuell täglich von Bern nach Luzern. Lesen Sie im Zug?
Nein, ich arbeite eigentlich immer. Ich kann die Umgebung gut ausblenden und mich konzentrieren, das macht mir keine Mühe.
Hatten oder haben Sie ein Vorbild?
Vorbilder sind für mich die unzähligen namenlosen Frauen auf der ganzen Welt, die Tag für Tag alles unter einen Hut bringen: Familie, Erwerbsarbeit, gesellschaftliche Aufgaben und, und, und. Wenn ich sie mir vorstelle im Regenwald oder in der Wüste, in Kriegsgebieten, unter schwierigsten Bedingungen, dann lassen sich meine täglichen Herausforderungen schnell etwas relativieren.
Welches war der beste Ratschlag, den Sie je bekommen haben?
«Tranquilla …» Das klingt etwas salopp, meint aber einfach: Nimm es mit der nötigen Gelassenheit. Früher habe ich mich über diesen Rat geärgert, aber heute sehe ich die Weisheit darin. Wo sich Probleme lösen lassen, gibt es durchaus auch einen Weg. Man findet ihn eher, wenn man ruhig bleibt und mit der nötigen Distanz darangeht.
Wann fehlt Ihnen denn die Gelassenheit?
Ungerechtigkeit fordert mich heraus. Darüber kann ich mich unglaublich aufregen.
Sind Sie deshalb Sozialarbeiterin geworden, um die Ungerechtigkeiten in der Welt zu bekämpfen?
Es war mir immer klar, dass die globale Ungerechtigkeit nicht von einer Einzelperson bekämpft werden kann. Aber wir können als Individuen alle etwas dazu beitragen. Soziale Arbeit bietet die Möglichkeit, sich im Dienste der Menschen und für ein tragfähiges Sozialwesen professionell einzusetzen. Das fand ich eine ausgezeichnete Option.
Weshalb würden Sie jungen Leuten heute empfehlen, Soziale Arbeit zu studieren?
Die Soziale Arbeit ist unverzichtbar für unsere Gesellschaft. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen Ausgleich und damit auch zum Wohlstand unseres Landes. Die Soziale Arbeit wird auch in Zukunft gefordert sein. Und es ist einfach ein spannender und vielseitiger Beruf!
Und weshalb würden Sie zum Master in Sozialer Arbeit raten?
Die heutige Komplexität der Sozialen Arbeit verlangt erweiterte Kompetenzen, und diese können Interessierte im Master-Studium erwerben. Anspruchsvolle Aufgaben in der Verwaltung, in Verbänden oder in sozialen Organisationen verlangen hochkompetente Fachpersonen. Sozialplanung, Konzeptarbeit, Projektmanagement oder Forschung sind auch für Sozialarbeitende mögliche Arbeitsfelder. Heute werden diese Arbeitsplätze eher von Fachpersonen aus den Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit besetzt.
Wo orten Sie die grossen Themen der Profession?
Die Soziale Arbeit war immer schon eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie wird aber zunehmend gefordert, weil die Fallarbeit grundsätzlich komplexer wird und sich die Rahmenbedingungen generell enger gestalten. Sozialhilfe, Arbeit mit Flüchtlingen, Arbeitsintegration, Suchtprobleme, Kindesschutz – das sind Kontexte, die hohe Professionalität verlangen. Gleichzeitig spart die öffentliche Hand. Soziale Arbeit muss in Zukunft ihre Wirkung noch klarer und plausibler kommunizieren können.
Und welche grossen Themen machen Sie aus für die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit während Ihrer Amtszeit?
Die Hochschule muss eine exzellente Ausbildung bieten, entsprechende Forschungstätigkeit, Dienstleistung und Weiterbildung. Die Sparvorlagen sind hier sicher eine grosse Herausforderung. Wir müssen Sorge tragen zur Bildungslandschaft und zu den hervorragenden Mitarbeitenden, die wir haben. Gleichzeitig müssen wir uns als Hochschule profilieren und zukünftige Themen innovativ bearbeiten wie beispielsweise Fragen nach integraler Raumgestaltung oder Digitalisierung.
Es ist schon aufgefallen, dass die Türe zu Ihrem Büro meistens offen steht …
Diese «Verbindung» ist mir wichtig. Ich möchte nicht allein im stillen Kämmerlein vor mich hinarbeiten. Die offene Türe soll auch eine Einladung zum Eintreten sein: Vertrauen, Unkompliziertheit und kurze Wege sind Teil meines Führungsverständnisses.