Wo Backstein drin ist, steht nicht immer Backstein drauf. Bis zu 80% der Schweizer Wohnhäuser verwenden laut Keller AG Ziegeleien zwar Backstein-Mauerwerk, doch nach aussen sind sie verputzt und dadurch von einer Betonwand nicht zu unterschieden. Zwischen Aussenputz und Backstein befindet sich im Normalfall eine Isolationsschicht, die oft breiter ist als das eigentliche Mauerwerk. «Für das Klima im Innenbereich ist die dichte Isolation problematisch, weil dadurch die Feuchtigkeit im Raum nicht nach aussen transportiert werden kann», erklärt Marvin King von der Hochschule Luzern. Darüber hinaus enthält das Isoliermaterial oft Pestizide und Flammschutzmittel und nach 30 Jahren sind die Wärmedämmverbundsysteme meistens sanierungsbedürftig. Die Isolation beziehungsweise das Wärmedämmverbundsystem wird zu Abfall, der nicht wiederverwertet werden kann.
Backstein von innen bis aussen
Gemeinsam mit Keller AG Ziegeleien und weiteren Wirtschaftspartnern entwickelten mehrere Institute des Departements Technik & Architektur der Hochschule Luzern eine nachhaltigere Lösung. «Homogene Backsteinfassade» heisst das durch innosuisse unterstützte Projekt, denn das neue Fassadensystem KISmur besteht einheitlich aus Backstein. Die dünnere Innenschicht aus hartem Backstein ist 15 Zentimeter breit und trägt das Gebäude. Die äussere Dämmschicht ist mehr als doppelt so dick und besteht aus weicheren Grossblock-Backsteinen. Dazwischen gleicht eine Fuge von etwa einem Zentimetern Ungenauigkeiten am Bau aus. Abgeschlossen wird das Mauerwerksystem durch einen Verputz innen und aussen – der Backstein bleibt also auch bei dieser Fassade unsichtbar. Versuche haben aufgezeigt, dass durch die gezielte Verbindung von Innen- und Aussenschale bei einem Erdbeben grössere horizontale Schubkräfte aufgenommen werden können als bei konventionellem Mauerwerk. Auf kurzlebige synthetische Materialien verzichtet das System völlig.
So braucht es dank der diffusionsoffenen natürlichen Materialien und der Speichermasse weniger Gebäudetechnik, um ein angenehmes Raumklima zu erzeugen. «Damit lassen sich die – geringen – Mehrkosten beim Mauerwerk bereits bei der Erstellung wieder einsparen», erklärt Marvin King und fügt hinzu: «Die Gebäudetechnik muss am schnellsten ersetzt werden. Deshalb senkt es die Unterhaltskosten auf die Dauer deutlich, wenn weniger Technik eingesetzt wird.»
Keine Wand, sondern ein ganzes System
Die Herstellung von Ziegelsteinen und das Bauen damit ist altes Handwerk. Was also ist am System KISmur neu? «Die Innovation besteht darin, dass wir das System als Ganzes betrachteten und berücksichtigten, wie sich welche Teile, also Backstein, Mörtel, Verputz oder Fenster, im Verbund mit anderen verhalten», sagt Dieter Geissbühler vom projektleitenden Kompetenzzentrum für Typologie & Planung in Architektur. Im Boot waren deshalb nicht nur Ziegelproduzenten, sondern unter anderen auch der Fensterhersteller BIENE und der Spezialist für Aussenputz AGITEC AG.
Dieses System haben die Forschenden der Hochschule Luzern nicht nur auf seine Qualitäten bei der Erstellung eines Gebäudes geprüft, sondern auch im Hinblick auf seine gesamte Lebensdauer bewertet. Dazu testeten sie das Verformungsvermögen anhand von Versuchsaufbauten und prüften mit Hilfe von Simulationen die Komfortbedingungen und den Energiebedarf des Fassadensystems
Langfristiges Denken ist gefragt
Nun braucht Backstein in der Herstellung zwar geringfügig weniger Energie als Beton. Dennoch muss er bei hohen Temperaturen gebrannt werden. Ist das neue System also ökologisch gesehen wirklich sinnvoller als ein herkömmliches Wärmeverbundsystem? «Ja, das ist es», sagt Marvin King. «Bei der energetischen Betrachtung von Gebäuden ist kurzfristiges Denken verantwortungslos. Wir bauen nicht für die nächsten zehn, sondern für die nächsten hundert Jahre. Deshalb muss die energetische Analyse eines Gebäudes dessen gesamten Lebenszyklus einbeziehen. Hier zeigt das neue System seine Qualitäten. Bereits für seine Erstellung benötigt es etwas weniger Energie als ein herkömmliches Wärmedämmverbundsystem. Nach dem ersten Sanierungszyklus – also in etwa 30 Jahren, wenn eine synthetische Isolationsschicht zum ersten Mal ersetzt werden müsste, punktet es noch einmal. Auch auf die zweite Sanierungsrunde, die normalerweise nach 60 Jahren anfällt, kann man den Berechnungen der Hochschule Luzern zufolge mit der homogenen Backsteinfassade verzichten und spart somit nochmals Energie, Geld und Sondermüll.
Ausstellung und Referate zum Thema «Ton, Backstein, Klinker»
Die Materialbibliothek der Hochschule Luzern – Technik & Architektur veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Onlinedatenbank Material-Archiv (materialarchiv.ch) am Campus in Horw regelmässig Ausstellungen und Vorträge zu ausgewählten Themen. Ab dem 31. Oktober dreht sich alles um «Ton, Backstein, Klinker».
Natürlicher Ton muss vor der Verwendung als Baumaterial verarbeitet und gebrannt werden. Dies hat Auswirkungen auf den architektonischen Umgang damit. Die Ausstellung zeigt auf, wie vielfältig das Zusammenspiel von Material, Herstellung und Verwendungsweisen in der Architektur ist.
Die Ausstellung wird von mehreren «Material z’Mittag» begleitet. Am 31. Oktober, 12.15 Uhr eröffnet der Architekt Pablo Donet die Reihe und Ausstellung mit dem Referat «Eine nordische Fassade» zum Klinkerneubau der Bremer Landesbank.
Über den eigenen Tellerrand hinaus
Um das neue Fassadensystem KISmur zu entwickeln, seine Qualitäten für das Raumklima mit Hilfe von Simulationen zu überprüfen und seine Erdbebenfestigkeit zu berechnen, arbeiteten Forscher aus verschiedenen Instituten und Kompetenzzentren der Hochschule Luzern zusammen. Die Projektleitung hatte das Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur des Instituts Architektur, nicht weniger wichtig waren die Beiträge des Instituts Gebäudetechnik und Energie sowie des Instituts Bauingenieurwesen mit seinen beiden Kompetenzzentren Konstruktiver Ingenieurbau und Gebäudehülle.