Welches sind die wichtigsten Eigenschaften, die Sie für Ihre Arbeit mitbringen müssen?
Intuition ist sehr wichtig – als Filmer muss ich wissen, wann ich mich einem Tier nähern kann und wann es gefährlich werden könnte. Als Biologe versuche ich, mich in das Tier hineinzuversetzen und gleichzeitig eine nüchterne Distanz zu wahren. Und wenn es darum geht, den Zuschauern Erkenntnisse zu vermitteln, muss ich gut verständlich formulieren und auch mal ein Überraschungsmoment inszenieren. Mindestens 60 Prozent der Aufmerksamkeit sind beim Publikum allein durch das Bild absorbiert.
Ausdauer oder Geduld spielen keine Rolle?
Sicher, aber es kursieren etwas romantisierende Vorstellungen über unsere Arbeit. Wir liegen selten tagelang in der Pampa und warten, bis ein Tier seinen Kopf herausstreckt, das können wir uns finanziell meist gar nicht leisten. Wir greifen auf ein riesiges Netzwerk zurück, auf Spezialisten, die uns helfen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Da sind neben Kenntnissen über die Tiere vor allem auch Organisationstalent und Verhandlungsgeschick gefragt.
Welche Tierart hat Ihre Geduld besonders strapaziert?
Das hat mich selbst überrascht: Krähen. Wir hatten uns das einfach vorgestellt, in direkter Nachbarschaft zum Studio gibt es Scharen von Krähen. Doch sobald wir unser Equipment in Position brachten, flogen sie davon. Sie merkten auf 500 Metern Entfernung, dass wir sie in den Fokus nahmen, das schätzten sie gar nicht. Es hat viel Geduld erfordert, bis sie sich an uns gewöhnt und realisiert hatten, dass von uns keine Gefahr ausgeht.
Seit 1989 moderieren Sie die Sendung «Netz Natur». Wie gelingt es Ihnen, Zuschauer über so lange Zeit hinweg zu faszinieren?
Tatsächlich schauen heute Eltern mit ihren Kindern die Sendung, die früher selbst als Kinder vor dem Bildschirm sassen. Es gibt technisches Wissen, neue Entwicklungen, die man integrieren muss, etwa Makroaufnahmen mit Minikameras, Aufnahmen mit Infrarotkameras, Drohnen usw., das gehört zum Handwerk. Aber letztlich geht es vor allem um Glaubwürdigkeit und darum, Geschichten packend zu erzählen.
Woher haben Sie dieses Talent?
Von meinem Grossvater. Wenn wir als Kinder mit ihm im Basler «Zolli» waren – und das waren wir oft –, hat er sich aus dem Stegreif Geschichten zu den Tieren ausgedacht.
Nach welchen Kriterien suchen Sie Themen für die Sendung aus?
Marktanalysen, was Zuschauer sehen wollen, machen wir nicht. Wir versuchen, relevante Themen zu vermitteln: Und wenn die Regenwürmer zu den wichtigsten Tieren im Land gehören, dann fühlen wir uns – unabhängig von ihrer optischen Attraktivität – verpflichtet, das zu thematisieren. Wir haben einen Informationsauftrag.
Sie greifen auch kontroverse Themen auf …
Klar. Was in der Gesellschaft für Diskussionen sorgt, nehmen wir auf. Der Mensch steht ja mit vielen Tierarten in einem angespannten Verhältnis: Fischer ärgern sich über Kormorane, Autofahrer über Marder, die Dichtungen zerbeissen … Unsere Motivation ist es, auch den Blickwinkel der anderen Arten zu zeigen, und zwar auf der Grundlage ihrer Natur, ihrer kognitiven Möglichkeiten und ihrer Wahrnehmungs- und Empfindungswelt.
Sehen Sie sich als «Dolmetscher»?
Ein Stück weit ja, ich versuche eine Brücke des «Verständnisses» zu bauen. Ich finde, wir sollten bescheidener sein, wir wissen über die meisten Lebewesen, über grundlegende Zusammenhänge nicht wirklich viel. Es ist lächerlich, wenn wir Tiere als intelligent oder weniger intelligent kategorisieren. Wenn Hunde einen Intelligenztest machen müssten, der auf dem Geruchssinn basiert, wären sie die klügsten Lebewesen und wir die dümmsten. Der Geruchssinn eines Hundes birgt so viel Information, Erlebnis, Emotion – das eröffnet eine Dimension, die uns komplett verschlossen bleibt.
Besonders emotional ist die Diskussion um Wölfe. Woran liegt das?
Was man von den Wölfen weiss, beruht zu einem grossen Teil auf Forschungen in Gehegen. Das wäre so, als wenn man die Biologie des Menschen aufgrund von Studien in einem Gefängnis beschreibt. Das Bild ist überholt. Neue Freilandstudien zeigen, dass die Sozialstrukturen einer Wolfsfamilie jenen einer Menschenfamilie sehr ähnlich sind. Es ist kein Zufall, dass Wölfe die ersten Begleiter der Menschen waren, und das bereits vor 40’000 Jahren. Andere Haustiere hält der Mensch erst seit 8’000 bis 10’000 Jahren.
Dann beruht das angespannte Verhältnis auf einem Irrtum?
Zu einem Teil schon. In früheren Zeiten war die Angst vor den Wölfen vielleicht berechtigt. Heute weist sie zum Teil irrationale Züge auf, gerade in den Berggebieten. Ich habe mich da schon gefragt, ob das ein altes Erbe ist, ob es eine genetische Komponente gibt …
Sie sprechen epigenetische Phänomene an. Denken Sie, dass sich durch Erfahrungen erlerntes Verhalten an die nächste Generation weitervererben lässt?
Absolut. Hinweise dafür gab es bereits seit den 1990er-Jahren. Ein Versuch an der Universität Georgia, bei dem man Mäusen in Verbindung mit Kirschblütengeruch einen Stromstoss versetzt hat, brachte den Beweis. Bis in die dritte Generation reagierten die Nachfahren der Mäuse mit Angstreaktionen auf diesen Geruch, obwohl sie selbst diese Erfahrung gar nie gemacht haben. Das sind bahnbrechende Erkenntnisse, die meiner Ansicht nach mit der Entdeckung der DNA gleichzusetzen sind.
Wenn Sie auf Ihre Schulzeit und Ihr Studium zurückschauen, was war besonders wichtig für Ihren späteren Lebenslauf?
Liberale Lehrer mit breitem Horizont – von der Mittelschule bis zum Studium: Lehrer und Dozenten, die nicht einfach Wissen vermittelten, sondern auch eine besondere Art, die Dinge zu sehen – in Zusammenhängen eben. Solche Vorbilder – Generalisten – sind heute eine aussterbende Spezies.
Welche weiteren Veränderungen nehmen Sie wahr?
Unsere Praktikanten sind zum Teil sehr darauf konditioniert, dass man ihnen alles vorkaut und präsentiert. Dabei sind sie Teilnehmende an laufenden Projekten, es ist an ihnen, sich aktiv zu beteiligen. Sie haben eine Holschuld. Heute bekommen die jungen Leute aber viel auf dem Silbertablett serviert.
Welchem Thema sollten die Schweizerinnen und Schweizer mehr Aufmerksamkeit schenken – wo sollten wir als Gesellschaft «dranbleiben»?
Wir leben in einer Zeit, in der mit allen erdenklichen Mitteln die Aufmerksamkeit der Leute erregt wird, um damit Geld zu verdienen. Und jeder urteilt über alle Dinge, ob er die Kompetenzen dazu hat oder nicht. Es gibt den Vorschlag, unsere Epoche als Anthropozän zu bezeichnen. Mein Vorschlag wäre Egozän. Was ich mir wünschen würde, wäre, dass wir aus dieser Selbstbezogenheit herausträten und wieder mehr Respekt gegenüber anderen Lebewesen haben würden.
Immer mehr Leute leben vegan – ist das ein Anfang?
Das ist auf der einen Seite positiv, weil dies Ausdruck von grossem Respekt vor anderen Lebewesen sein kann. Auf der anderen Seite ist es die Verletzung eines Naturprinzips: Die Natur lebt, weil es Nahrungsketten gibt, einen Kreislauf von Entstehung und Verfall. Der Verzehr von Fleisch an sich muss nicht Ausdruck von Respektlosigkeit sein – es kommt darauf an, wie die Tiere gelebt haben und welchen Stellenwert sie haben. Von indigenen Völkern können wir hier sehr viel lernen.
Wie sollte sich ein respektvoller Umgang ausdrücken?
Das beginnt im Kleinen, im Alltag. Bei scheuen Tieren Abstand halten und nicht noch näher rangehen, um ein möglichst cooles Foto zu schiessen. Das ist durchaus auch im übertragenen Sinne gemeint: Wir sollten versuchen, unser Gegenüber und seine Äusserungen wahrzunehmen, ob sie verbal sind oder nicht.
Interview: Sigrid Cariola
Bild: SRF / Oscar Alessio