Werden heute Häuser neu gebaut oder saniert, achtet man darauf, dass für die Erstellung und den Betrieb des Gebäudes möglichst wenig Energie verbraucht wird: Lokale Materialien werden eingesetzt, Wände, Dach und Boden gut gedämmt, Solarzellen montiert, sparsame Haushaltsgeräte eingebaut ...
Was bei der energetischen Gesamtschau aber noch nicht standardmässig berücksichtigt wird, ist die Energie für die Mobilität, welche durch die Nutzenden eines Gebäudes induziert wird. Konkret: Der Standort eines Hauses bestimmt zu einem grossen Teil, auf welche Verkehrsmittel die Gebäudenutzenden setzen und wie lang ihre Wege sind. «Es ist widersinnig, Leuchtturmprojekte für Gebäudeenergie zu bejubeln, wenn sie dort entstehen, wo die Durchschnittsfamilie zwei Autos benötigt, um ihre Alltagsmobilität zu bewältigen», bringt es Verkehrsplaner Mark Sieber von Ernst Basler + Partner auf den Punkt. Er ist Präsident jener Kommission des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA), die sich mit diesem Thema beschäftigt.
Mobilität in Gesamtschau integriert
Nicht zuletzt deshalb hat der SIA 2011 die Dimension «Mobilität» in seine Dokumentation «Effizienzpfad Energie» aufgenommen. Der Effizienzpfad Energie zeigt den Weg zum Bauen im Sinne der 2000-Watt-Gesellschaft auf und enthält Werte, wie viel nicht erneuerbare Primärenergie (z. B. Mineralöl) Neu- und Umbauten verbrauchen und wie viel Treibhausgase sie verursachen dürfen. «Gebäude an optimalen Standorten und mit optimiertem Mobilitätsangebot sind deutlich energieeffizienter», schrieb der SIA bei der Einführung des entsprechenden Merkblatts SIA 2039. Erarbeitet hat dieses eine Arbeitsgemeinschaft der Hochschule Luzern und des Planungsbüros Jud, welche nun auch für die erste Überarbeitung verantwortlich sind.
In der Schweiz und in Europa gibt es diverse Energielabels für Gebäude. Keines gibt aber der Mobilität, welche durch die Nutzenden eines Gebäudes induziert wird, so viel Gewicht, wie es zum Beispiel der SIA-Effizienzpfad Energie tut (siehe Haupttext). Müsste sich dies ändern und der Energiebedarf für die Mobilität der Benutzerinnen und Benutzer eines Hauses künftig in die Energiezertifizierung eines Gebäudes einfliessen?
«Konsequenterweise ja», findet Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht von der Hochschule Luzern. «Für eine Gebäudezertifizierung müssten alle drei Bereiche – Bau, Betrieb und Mobilität – berücksichtigt werden.»
Verkehrsplaner Mark Sieber von Ernst Basler + Partner ist darüber gespalten. Einerseits wäre ein Einbezug in die Zertifizierung ehrlicher, sagt er. Andererseits befürchtet Sieber, dass durch eine Vermengung verschiedener Themen das eigentliche Anliegen verwässert werde und nicht mehr sichtbar sei. «Weitere Nachhaltigkeitsthemen könnten dann ebenfalls einbezogen werden, womit das Label immer weniger spezifisch lesbar wäre», so Sieber.
Für Verkehrsplaner Stefan Schneider vom Planungsbüro Jud ist es zu früh, diese Frage abschliessend zu klären: «Die ersten Städte und Gemeinden haben begonnen, die Einhaltung der Zielwerte des SIA-Effizienzpfads Energie in Baubewilligungsverfahren verbindlich zu verlangen.» Zurzeit würden damit erste Erfahrungen gemacht. «Diese werden zeigen, ob entsprechende Vorgaben auch wirklich umgesetzt und kontrolliert werden können.»
Autorin: Yvonne Anliker
Bild: Hochschule Luzern
Was ist aus energetischer Sicht ein optimaler Standort für ein Wohngebäude? Verkehrssoziologe Timo Ohnmacht von der Hochschule Luzern umschreibt den Idealfall so: Ein Haus in der Kernstadt (mehr als 100’000 Einwohner) mit guter Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr, in unmittelbarer Nähe von Einkaufsläden, keine Parkplätze, ein Carsharing- Standort ist schnell erreichbar. Die Bewohnerinnen und Bewohner brauchen kaum je ein Auto und besitzen ein ÖV-Dauerabonnement. «So können sie gegenüber dem Schweizer Mittelwert bis zu 87 Prozent des Energiebedarfs in der Alltagsmobilität einsparen», sagt Ohnmacht. Heute induziert ein Wohngebäude gemäss Merkblatt durchschnittlich pro Bewohner einen Bedarf von 4’060 Kilowattstunden nicht erneuerbarer Primärenergie für die Alltagsmobilität. Daraus resultieren rund 860 Kilogramm Treibhausgasemissionen (siehe Kasten).
Grosser Einfluss der Behörden
Aber nicht alle können leben wie im Idealfall. Deshalb müssen verschiedene Parteien mitdenken und Hand in Hand arbeiten, damit möglichst viele optimale Standorte geschaffen werden können. «Der Einfluss von Politik und Behörden ist am grössten», sagt Sieber. Die Siedlungsentwicklung sei auf die gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossenen Lagen zu konzentrieren. «Gemeinden und Städte können mit Beschränkungen der Parkplatzzahlen oder Vorschriften zur Bereitstellung von Veloabstellplätzen dem Ziel einer energieeffizienten und klimaschonenden Mobilität Nachdruck verleihen.» Ohnmacht plädiert zudem für mehr Verdichtung: «Mehr Leute auf gleichem Raum.»
Und Bauherren und Investorinnen müssen gemäss Stefan Schneider, Verkehrsplaner und Geschäftsleiter des Planungsbüros Jud, für ein attraktives Umfeld sorgen, z. B. mit einem Carsharing-Standort in der Siedlung, einem ÖV-Anreiz in der autofreien Wohnüberbauung und einer einladenden Grünanlage zur Naherholung. «Wichtig scheint mir zudem, dass Architekten eine Vorstellung davon haben, welche Bedürfnisse die Nutzenden haben werden. Für das Raumprogramm und die Ästhetik ist das selbstverständlich, für die Mobilität jedoch nicht», so Sieber.
Doch selbst mit einem optimalen Standort, gutem Mobilitätsangebot und einem attraktiven Umfeld allein lassen sich die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft nicht erreichen. «Wir müssen auch unser Mobilitätsverhalten ändern wollen», sagt Ohnmacht. Zusätzlich motivieren können Bauherren und Investoren. «Wer im Mietzins Anreize für den öffentlichen Verkehr setzt, kann die Mieterschaft zum Beispiel animieren, ein ÖV-Dauerabonnement zu kaufen», sagt Schneider.
Noch ist nicht bei allen Politikern, Planerinnen, Bauherrschaften und Nutzern angekommen, dass in Zusammenhang mit der Energie auch die Mobilität berücksichtigt werden sollte. Die Experten sind aber zuversichtlich. «Auch die Einführung von Energiestandards für Erstellung und Betrieb von Gebäuden dauerte seine Zeit», sagt Sieber.
Autorin: Yvonne Anliker
Bild: Pixabay
Grafik Quellen: Hochschule Luzern/SIA
So wurde gerechnet
Als Grundlage für das Berechnungsverfahren der von einem Gebäude induzierten Mobilität dient der Mikrozensus Verkehr und Mobilität 2010. Anhand dieser Datensätze haben Timo Ohnmacht von der Hochschule Luzern und sein Team den Primärenergiebedarf und die Treibhausgasemissionen der alltäglichen Mobilität erfasst und den Einfluss von Faktoren wie z. B. Bevölkerungsdichte und Anzahl Autos pro Haushalt ermittelt. Mit Modellen simulierten sie dann den durchschnittlichen Mobilitäts- Energieverbrauch pro Person für verschiedene Gebäudetypen wie z. B. Wohngebäude oder Büros jeweils auch in Abhängigkeit ihres Standorts.