Rita Gisler, in welcher Stadt würden Sie am liebsten leben?
Bern, wo ich bereits lange lebe. Die Stadt betreibt seit vielen Jahren eine aktive, umfassende und zukunftsgerichtete Alterspolitik. New York wäre auch bestechend, denn dort wohnen mehr als eine Million über 65-Jährige. Ich lernte Beispiele der New Yorker Alterspolitik an einer internationalen Konferenz kennen und war fasziniert, etwa vom Konzept der altersfreundlich ausgestalteten Einkaufsläden. Aber zurück in die Schweiz: Hier ist im Moment vieles in Bewegung, die Städte bauen Strukturen auf, sprechen Ressourcen für Gremien oder Stellen und Altersstrategien werden verfasst. Alterspolitik hat sich von einem politischen Randgebiet zu einem bedeutenden Politikbereich gewandelt.
Wie steht es um kleinere Gemeinden?
Es ist teilweise schwierig, sie zu einer aktiven Alterspolitik zu bewegen. Für viele Aufgaben, die über die Grundversorgung von Pflege und Betreuung hinausgehen, gibt es weder Gesetze noch Verpflichtungen und die Mittel sind oft knapp. Es braucht in der Regel einen Anstoss: sei das durch den Kanton, der ein Gesetz lanciert oder Unterstützungsbeiträge für die Erarbeitung von Alterskonzepten spricht, einen Gemeinderat, der das Thema vorantreibt, oder die ältere Bevölkerung selbst, die aktiv wird.
Wir haben es mit einer neuen Generation älterer Menschen zu tun ...
Die Seniorinnen und Senioren sind oft gut gebildet, lange eigenständig, selbstbewusst und wollen die Alterspolitik mitgestalten. Und sie sind geübt im Umgang mit elektronischen Kommunikationsmitteln. Das heisst, sie beschaffen sich Informationen selber und können sich geeignete Leistungspakete zusammenstellen. Wünschenswert für die Zukunft sind flexiblere Finanzierungsmodelle, sprich eine Person erhält ein bestimmtes Budget, mit der sie Leistungen in Pflege und Betreuung selbst wählen und einkaufen kann.
Wo besteht in Städten und Gemeinden am meisten Handlungsbedarf?
Es fehlt altersgerechter Wohnraum. Die Städte haben oft wenig direkten Einfluss auf die Bautätigkeit. Sie können das Angebot aber zum Beispiel mittels Auflagen in Überbauungsordnungen oder bei Baurechtsverträgen steuern. Auch Einsamkeit und fehlende Integration der älteren Bevölkerung sind ein grosses Thema in den Städten. Deshalb richten sich die Unterstützungsangebote vermehrt an Quartiere und Nachbarschaften. Der Trend geht weg von grossen «Alterszentren» hin zu lokalen Anlaufstellen und niederschwelligen Angeboten im Lebensraum der älteren Bevölkerung.
Sie haben als externe Projektmitarbeiterin an der Studie der Hochschule Luzern mitgewirkt. Haben Sie die Resultate überrascht?
Die Studie bestätigt die Eindrücke aus meiner Beratungstätigkeit und aus meiner Zeit als Amtsleiterin in der Stadt Bern: Es fehlen beispielsweise oft ämterübergreifende Strukturen in der Verwaltung. Überrascht hat mich der erfolgreiche Ansatz der interkommunalen Kooperation unter den drei Gemeinden Wallisellen, Dietlikon und Wangen-Brüttisellen. Sie könnten als Vorbild für einen regionalen Ansatz für weitere Gemeinden dienen.
Was kann die Forschung dazu beitragen, dass das Thema Fortschritte macht?
Die Hochschule Luzern erarbeitet nötiges Grundlagenwissen, um Standards und Strategien zu entwickeln. Wichtig ist, dass sie dieses Wissen in die Praxis überführen kann. Denn diese braucht Expertise und Begleitung, um das komplexe Thema anzupacken.
Interview: Mirjam Aregger