10 October 2018
Quartier im Einklang
Wie bringt man Lebensqualität und verdichtetes Bauen zusammen? Zwei gemeinsame Projekte der Departemente Technik & Architektur und Soziale Arbeit zeigen, wie das gehen kann.
Der freundliche Nachbar von unten wird zum Störenfried, wenn er mit einem lauten Telefongespräch unsere Balkonruhe trübt. Das Paar gegenüber mag fröhlich und hilfsbereit sein, aber wenn sie durch unsere Fenster in sämtliche Zimmer schauen können, empfinden wir sie als Eindringlinge. Siedlungen, in denen Menschen nahe nebeneinander leben, haben ihre Tücken. Trotzdem: Verdichtet bauen ist eine Notwendigkeit. Denn nicht nur die Bevölkerung der Schweiz wächst, sondern auch die durchschnittliche Wohnfläche, die jede Person für sich beansprucht. Soll die Zersiedelung der Landschaft nicht weiter voranschreiten, bleibt nur eines: näher zusammenrücken.
Damit diese Dichte nicht nur akzeptiert, sondern als etwas Positives empfunden werden kann, müssen Architektinnen und Planer sich bereits in einem frühen Planungsstadium Gedanken über das Zusammenleben der Bewohnerinnen und Bewohner machen. Ist eine Siedlung einmal gebaut, so lassen sich viele Probleme nur mit grossem Aufwand lösen. Zwei Projekte, in denen Architektinnen und Sozialwissenschaftler der Hochschule Luzern zusammengearbeitet haben, widmeten sich der Frage, wie sich Lebensqualität und verdichtete Bauweise miteinander vereinbaren lassen. Im Projekt «Stadtklang – Aktivierung von Klangraumqualitäten in urbanen Aussenräumen» untersuchten Expertinnen und Experten aus Architektur, Städtebau, Stadtplanung, Landschaftsplanung, Baustoffkunde, Akustik und Sozialwissenschaften, welche akustischen Qualitäten Aussenräume haben. Das Projekt «Interface Fassadenraum – Gestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit in dichten Wohngebieten» beschäftigte sich damit, wie Rückzug und Austausch individuell gesteuert werden können, um Akzeptanz oder gar Zustimmung für Dichte zu schaffen.
Klang beeinflusst die Lebensqualität
Tamara Schmid lebt in einer Wohnung, die an eine Strasse grenzt und auf der Rückseite auf einen Innenhof hinausführt. Sie schätzt diesen Ausgleich zur lärmigen Strasse und amüsiert sich darüber, dass sie die Namen sämtlicher Kinder der Überbauung kennt, nicht aber «Für die Lebensqualität ist der Klang einer Siedlung genauso wichtig wie ihre optische Gestaltung.» Ulrike Sturm, Projektleiterin die Kinder selber, denn sie hört durch das offene Wohnzimmerfenster die rufenden Mütter. Die Hoftür hingegen, die jedes Mal mit lautem Knall zufällt, nervt sie. Und auch auf das Mithören der nachbarlichen Balkongespräche würde sie gerne verzichten. Die akustische Ebene hat tagtäglich grossen Einfluss darauf, wie wohl wir uns in unserer Wohnung fühlen. Ulrike Sturm, Leiterin des Projekts «Stadtklang», ist zum Schluss gekommen: «Für die Lebensqualität ist der Klang einer Siedlung genauso wichtig wie ihre optische Gestaltung.» Für Architektinnen und Architekten allerdings sei die Auseinandersetzung mit dem Klang einer Überbauung Neuland. Damit nicht weiterhin Siedlungen gebaut werden, deren Akustik den Bewohnerinnen und Bewohnern das Leben schwer macht, finanzierten Innosuisse und das Bundesamt für Umwelt sowie verschiedene Unternehmen das Projekt «Stadtklang».
Messbare Kriterien
Um herauszufinden, wie sich Innenhöfe akustisch möglichst angenehm gestalten lassen, müssen zunächst zwei Fragen geklärt sein: Was hören wir, wenn wir uns in einem Hof aufhalten? Und: Wie wird dies durch Gebäude beeinflusst? Das Stadtklang-Projektteam beschreibt drei Räume, die wir immer mithören: die Umgebung ausserhalb der Überbauung – den Verkehrslärm, von dem Tamara im Innenhof verschont bleibt –, den Raum zwischen den Häusern – das Türknallen und die Mütter, die ihre Kinder rufen – und den Nahraum im Umkreis von bis zu fünf Metern um eine Person oder eine Personengruppe (siehe Grafik).
Klang baulich gestalten
Mit Schall geschieht vieles, und vieles davon gleichzeitig. Die Forscherinnen und Forscher konzentrierten sich auf die wichtigsten Phänomene, die für die bauliche Gestaltung wesentlich und gleichzeitig für die Messung und Bearbeitung handhabbar sind: Reflexion, Streuung, Absorption und Beugung.
Oberflächen werfen Schallwellen zurück, sie reflektieren sie. Dadurch können zum Beispiel Flatter-Echos entstehen, was Bewohnerinnen und Bewohner als unangenehm empfinden. Je härter und glatter eine Oberfläche ist, umso mehr reflektiert sie den Schall. Parallele Wände verstärken diese Wirkung noch.
Wird der Schall nicht nur in eine Richtung zurückgeworfen, sondern in viele verschiedene, so spricht man von Streuung. Diese wird als sehr viel angenehmer empfunden. Erreicht werden kann Streuung durch Materialvielfalt, Mikroporen oder Reliefs. Strukturierte Wände sind für die Akustik in einem Innenhof also besser als glatte Oberflächen.
Absorption bedeutet, dass Schallenergie in eine andere Energieform umgewandelt wird. Es entsteht das Gefühl, der Schall werde «geschluckt». Dafür eignen sich im Frequenzbereich der Sprechstimme poröse Materialien wie Schaumstoffe, Mineralfasermatten oder dicke Textilien. Harte und schwere Materialien wie Glas, Beton oder Holz hingegen absorbieren Schall praktisch nicht.
Schallwellen können durch Hindernisse abgelenkt werden. Dies geschieht beispielsweise an Gebäudeecken, Schallschutzmauern oder Hügelkanten. Dies gilt es schon bei der Stellung der Gebäude zueinander zu berücksichtigen.
Lärm ist nicht nur subjektiv
«Lärm ist das Geräusch der anderen», so der Schriftsteller Kurt Tucholsky. Doch bei aller Subjektivität des Empfindens lassen sich Geräusche auch nach objektiven Kriterien erfassen: Wie laut sind sie, wie oft und wann treten sie auf? Welche Tonfrequenz oder welchen Rhythmus haben sie? Welcher Klang entsteht? Um das herauszufinden, machte sich das Team mit Hilfe des Klangforschers und -künstlers Andres Bosshard von der Zürcher Hochschule der Künste in vier Siedlungsinnenhöfen und einem öffentlichen Hof mit acht Mikrofonen und einer Pauke ans Werk. Die Pauke diente dazu, ein ständiges, gleichbleibendes und damit gut vergleichbares Grundgeräusch zu erzeugen. An einzelnen Stellen veränderte das Team anschliessend die Oberfläche der Wände – mit frappantem Resultat: Der Aufbau einer Backsteinmauer mit strukturierter Oberfläche veränderte die akustische Situation in einem überdachten Durchgang völlig.
Gewünscht: Ruhe und Diskretion
Plötzlich auftretende Geräusche stören, und anhaltende, wie zum Beispiel eine mechanische Lüftung, nerven. Eine gute Schliessanlage würde das Zuknallen in Tamara Schmids Innenhof verhindern. Technische Anlagen sollten so platziert und gestaltet werden, dass niemand sie hören kann. Eine weitere Aussage, die sich verallgemeinern lässt, mag überraschen: Leiser ist nicht immer besser. Dies deshalb, weil Ruhe nicht der einzige Anspruch ist, den wir an einen Innenhof stellen; wir wollen auch Diskretion. Fehlen aber die tiefen und mittleren Frequenzen ganz, die vor allem aus dem umgebenden Raum stammen, so werden die Klänge aus dem Raum zwischen den Baukörpern – einzelne Stimmen etwa – klarer vernehmbar. Das Ziel der akustischen Hofgestaltung, ist das Projektteam überzeugt, muss eine ausgewogene Kombination von Aussen und Innen sein.
Simulation als Planungshilfe
Die Erkenntnisse aus dem Projekt «Stadtklang» helfen Architektinnen und Planern schon in einem sehr frühen Stadium. Dank Simulationsprogrammen sind sie in der Lage, mit einer veränderten Stellung der Gebäude oder verschiedenen Materialien zu experimentieren und so das Klangverhalten zu beeinflussen. Nur wenn sie um komplexe Wechselwirkungen wissen, können sie präzise Fragen stellen und aus Simulationen brauchbare Antworten entwickeln. Denn Klang entsteht immer im Zusammenspiel vieler Faktoren. In der Architektur gilt es, dieses Zusammenspiel zu gestalten.
Autorin: Senta van de Weetering
Fotos/Grafik: allgemeine baugenossenschaft luzern; Franca Pedrazzetti; Timo Walker CCTP
«Wohnen findet nicht nur in der Wohnung statt»
Das Wechselspiel von öffentlichem und privatem Raum ist für die Lebens- und Wohnqualität in einer Überbauung zentral. Wie Planerinnen und Architekten diesen Zwischenraum gestalten können, beleuchtet das von Innosuisse, Partnern aus der Wirtschaft und der öffentlichen Hand unterstützte Projekt «Interface Fassadenraum – Gestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit in dichten Wohngebieten». Ein Gespräch mit Angelika Juppien und Richard Zemp von der Hochschule Luzern.
Was hat Sie zur Beschäftigung mit dem Thema motiviert?
Richard Zemp: Wir stellten fest, dass es in den Diskussionen um Verdichtung häufig mehr um Ausnützungsberechnungen geht als darum, was das Näherrücken für die Bewohnerinnen und Bewohner bedeutet. Wir wollten mit unserer Arbeit kreative Impulse in die Debatte um die Zwischenräume bringen, indem wir fragten, was dazu führt, dass Bewohnerinnen und Bewohner die Dichte als Qualität erleben können.
Wie sind Sie in das Projekt gestartet?
Angelika Juppien: Uns interessierte, wie die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Wohnsituation wahrnehmen und wie sie die Spielräume nutzen, mit denen sie den Austausch mit der Nachbarschaft und den Rückzug ins Private regulieren können. Zunächst ging es darum, zu beschreiben, was wir vorfanden. Deshalb fingen wir mit ausführlichen Begehungen der neun untersuchten Siedlungen an. Die Fotokamera wurde dabei zur wichtigen Begleiterin, weil Bilder oft aussagekräftiger sind als lange Beschreibungen. Anschliessend führten wir Gruppen- und Einzelgespräche mit Bewohnerinnen und Bewohnern.
Das Resultat der Studie war keine Handlungsanweisung, sondern ein «Vokabular des Zwischenraums», das im kommenden Jahr als Buch publiziert wird. Sie stellen darin sieben Begriffe vor, die das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit charakterisieren. Könnten Sie dafür einige Beispiele geben?
Angelika Juppien: Genau, es sind sieben Begriffe: Porosität, Tarnung, Alternativen, Ambivalenz, Intermezzo, Kompensation und Flirt. Nehmen wir zum Beispiel «Porosität», ein Begriff, der aus der Physik stammt und das Verhältnis von Hohlraum zu Festkörper beschreibt. Wir beziehen diese Eigenschaft auf die gesamte Struktur einer Siedlung. Durch Form und Anordnung der Gebäude entstehen Gassen und Freiräume. Wo es ein Wechselspiel von Enge und Weite, von intimen Ecken und öffentlicheren Räumen gibt, fühlen sich die Bewohnerinnen und Bewohner wohler, weil es die Möglichkeit gibt, Rückzug und Austausch zu regulieren.Richard Zemp: «Tarnung» ist eine Strategie, die den Blick so gut als möglich auf der Oberfläche der Gebäude hält und ihn dadurch von den Wohnungen ablenkt. Ein schönes Beispiel dafür ist eine Siedlung, in der die Gebäude ein grosses Tor bilden, das den Blick auf den Fluss dahinter steuert und so von den Fenstern weglenkt.
Und welches Konzept verbirgt sich hinter dem Begriff «Alternativen»?
Richard Zemp : Alternativen geben Wahlfreiheit und damit auch das Gefühl, die eigene Umgebung ein Stück weit kontrollieren zu können. Dieses Gefühl von Kontrolle über den eigenen Raum ist zentral, damit eine dichte Bebauung auf Akzeptanz stossen kann. Da war zum Beispiel die Bewohnerin eines Hauses mit zwei Eingängen. Sie benutzte immer den Hinterausgang, weil sie auf diese Weise Begegnungen mit den Nachbarn vermeiden konnte. Andere Bewohner haben uns erzählt, dass sie froh sind, Zimmer sowohl auf den Hof als auch auf die Strasse hin zu haben. Die anonymere Strassenseite ist für sie die privatere.
Angelika Juppien : Ziel des Vokabulars ist es nicht, dass bei der Planung einer Siedlung alle Begriffe einzeln abgearbeitet werden. Wir verstehen sie als Denkanstösse – es geht darum, sie in Beziehung zueinander zu setzen. Sie erweitern den Blick über die Fassade hinaus auf das ganze Quartier.
Weshalb?
Richard Zemp: Wohnen findet ja nicht nur in der Wohnung, sondern auch vor dem Haus und in der Umgebung statt. In zahlreichen Gesprächen zeigte sich, dass Probleme einer Wohnung durch ein vielfältiges Nutzungsangebot in der Siedlung oder durch Angebote im nahen Quartier kompensiert werden können. So störte sich zum Beispiel ein Bewohner nicht daran, dass seine Fenster alle auf einen Hof mit lautem Kinderspielplatz gingen, weil er die Möglichkeit hatte, zum Arbeiten in die Bibliothek gleich um die Ecke auszuweichen. Das Beispiel zeigt aber auch, wie wichtig es ist, dass Grundriss und Aussenraum aufeinander abgestimmt sind. Hätte er ein Zimmer, das auf eine andere Hausseite geht, könnte der Bewohner dem lauten Kinderspielplatz in der eigenen Wohnung ausweichen.
Angelika Juppien : Es geht eben nicht um die isolierte Betrachtung von Bauteilen, sondern um das gelungene Wechselspiel verschiedener Elemente, vom Wohnungsgrundriss bis hin zum Quartier.
Interview: Senta van de Weetering
Das Projekt «Interface Fassadenraum – Gestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit in dichten Wohngebieten»
Beispiele für eine erfolgreiche Gestaltung des Zwischenraums
Bilder: CCTP; Sonnenschirm: Andréa Zemp Nascimento / www.daundort.com; Tor zum Fluss und Alternativen: Bildarchiv Walter Fischer / kfp Architekten
Beteiligte Projektpartner
Forschungsteam:
Hochschule Luzern – Technik & Architektur, Kompetenzzentrum Typologie & Planung, Matthias Bürgin (Co-PL), Timo Walker, Richard Zemp, und Institut für Innenarchitektur, Carmen Gasser Derungs
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, Institut für Soziokulturelle Entwicklung, Ulrike Sturm (Co-PL), Meike Müller, Axel Schubert, Tom Steiner
Zürcher Hochschule der Künste, Andres Bosshard
Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, Sabine von Fischer
Finanzielle Trägerschaft/Wirtschaftspartner:
Bundesamt für Umwelt BAFU, Abteilung Lärm und NIS, Trond Maag
Stahlton Bauteile AG, Frick, Ernst Gisin, Peter Curiger, Beat Wolfensberger
Keller Systeme AG, Pfungen, Christian Keller, Max Wassmer, Samuel Cros
abl Allgemeine Baugenossenschaft Luzern, Peter Bucher, Bruno Koch, Martin Buob
Grün Stadt Zürich, Paul Bauer
Marc Kocher Architekten, Zürich, Marc Kocher
Beirat:
Kurt Eggenschwiler, Empa, Abteilung Akustik/Lärmminderung, Dübendorf
Thomas Gastberger, Kanton Zürich, Tiefbauamt, Fachstelle Lärmschutz
Christoph Fahrni, Fahrni Landschaftsarchitekten, Luzern
Martin Lachmann, applied acoustics GmbH, Gelterkinden
Christian Popp, Lärmkontor GmbH, Hamburg (D)
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