Migration, Überalterung, Klimawandel – auf die Gesellschaften Europas kommen grosse Herausforderungen zu. Gleichzeitig fühlen sich viele Menschen nicht mehr von der Politik repräsentiert, die eigentlich auf diese Probleme Antworten geben sollte. Populisten nutzen den Legitimationsschwund und rütteln immer fester an den traditionellen Institutionen, an den politischen Parteien ebenso wie an den öffentlich-rechtlichen Medien.
Fürs Policy Lab der Europäischen Union skizzieren derzeit junge DesignForschende aus sechs europäischen Hochschulen Vorschläge, wie staatliche Strukturen und Dienstleistungen so neugestaltet werden können, dass sie künftigen Anforderungen und Bedürfnissen der Bevölkerung besser gerecht werden. Das Lab fungiert als interdisziplinäre Ideenwerkstatt für gesellschaftliche und politische Themen. Die Hochschule Luzern ist als einzige Schweizer Institution am Projekt beteiligt. «Wir bringen eine zusätzliche Perspektive mit ein», sagt Projektleiterin Sabine Junginger: jene des direktdemokratischen Kleinstaats im Herzen Europas mit der konsensorientierten politischen Kultur.
Politik vom Einzelnen her denken
Junginger leitet ein 24-köpfiges Team aus Studierenden des Bachelors Design Management, International (DMI). Die Studentinnen und Studenten tüfteln in Gruppen an Vorschlägen fürs Policy Lab. Ihre Dozentin spornt sie dazu an, das Zusammenspiel von Gesellschaft und Staat mit frischem Blick zu betrachten. Wichtig: «Sie sollen sich nicht von Vorurteilen ausbremsen lassen, allen voran der Einstellung, dass der Einzelne ohnehin nichts ausrichten könne.» Manche Studierende hätten erst begreifen müssen, dass sie selbst Teil des politischen Systems sind und dieses mitgestalten können.
Reorganisationen, ob in Politik oder Unternehmen, scheitern laut Sabine Junginger oft daran, dass sie nur aus einer Management-Perspektive gedacht und auf ökonomische Effizienz getrimmt werden. Die Bedürfnisse der Nutzer – hier der Bevölkerung sowie deren einzelnen Vertreterinnen und Vertretern in Politik und Verwaltung – spielten eine untergeordnete Rolle. Die Expertin für Prozess-Design plädiert deshalb dafür, Dienstleistungen auch in Staat und Verwaltung nach den Prinzipien des Human Centered Design zu gestalten, also vom einzelnen Nutzer ausgehend. «Überträgt man dieses Prinzip auf die Gestaltung politischer Prozesse», so Junginger, «sollten diese wann immer möglich durch partizipative Elemente ergänzt werden, die es den Bürgern erlauben, Politik direkt mitzugestalten.»
Steuern (fast) à la carte
Wie das konkret aussehen könnte, illustriert das Konzept «Tailored Taxes», das die Studierenden Helena Amor, Miro Peloso, Ellen Wolf und Lisa Moser fürs EU Policy Lab entworfen haben. Demnach bestimmen die Bürgerinnen und Bürger bei 30 Prozent der Steuern künftig selbst, wo diese investiert werden sollen. «So könnte das Geld etwa in die Krebsforschung investiert werden, in erneuerbare Energien, den Ausbau des Netzes selbstfahrender Busse oder in eine Kombination davon», erläutert Helena Amor. Über den Verwendungszweck der restlichen 70 Prozent bestimmt der Staat. Damit bleibt in jedem Fall genug Geld für essenzielle Dienstleistungen.
Für Amor funktioniert «Tailored Taxes» in zwei Richtungen: Weil das Konzept dem Einzelnen finanzielle Mittel zur politischen Gestaltung in die Hand gibt, begreift dieser sich stärker als Teil einer politischen Gemeinschaft, als wenn er keine Kontrolle darüber hat, was mit seinen Steuern geschieht. Für den Staat wiederum sei «Tailored Taxes» neben Wahlen und Abstimmungen ein weiteres Instrument, um zu eruieren, welche Themen die Menschen umtreiben; sprich, «wofür sie bereit sind, Geld zu investieren».
Utopisch? Realistisch!
Klingt alles utopisch? «Verwaltungsexperten waren von «Tailored Taxes» überrascht und durchwegs angetan», sagt Sabine Junginger. Das zeige, dass der Vorschlag so abwegig nicht sei. Die Design-Forscherin wagt daher die Prognose: «Früher oder später werden europäische Steuersysteme um partizipative Elemente erweitert.»
Autor: Martin Zimmermann
Illustration: Anna Deér
Noch mehr Ideen für die EU
«Tailored Taxes» ist einer von mehreren Vorschlägen, welche die DMI-Studierenden fürs EU Policy Lab ausgearbeitet haben.
Weitere Beispiele sind eine zweite Berufskarriere für Seniorinnen und Senioren: Um ältere Menschen sozial und ökonomisch besser einzubinden, sollen sie nach der Pensionierung weiter arbeiten dürfen. Dies vergütet ihnen der Staat mit Steuererleichterungen oder reduzierten Krankenkassenprämien.
Eine andere Idee ist der persönliche E-Government-Assistent: Eine personalisierte App soll Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig über Abstimmungen, Wahlen oder sonstige politische Weichenstellungen informieren, damit sie angesichts der digitalen Informationsflut solche wichtigen Ereignisse nicht verpassen.
Das Projekt des EU Policy Lab läuft seit April 2018. Anfang 2019 werden die eingereichten Vorschläge in Brüssel ausgestellt.