Morgens um 8 Uhr ist Sarah Gasser bereits in ihrem kleinen Atelier in der Winterthurer Altstadt am Werk. Es gilt, einen Animationsfilm zum Versicherungsprojekt «Schutz vor Naturgefahren» zu realisieren. Dafür hat die 29-jährige Illustratorin ein Modellhaus aus Papier gebaut – samt Solarzellen auf dem Dach. «Ein typisches Einfamilienhaus sollte es sein», erklärt sie. Selbst das Innere ist aus Papier oder Karton, verblüffend detailgetreu nachgebildet. Papier, Schere und Leim – mehr braucht sie nicht für ihre Kunst, die sie selbst lieber Handwerk nennt.
«Papier ist ein wunderbares Material, das mich schon immer fasziniert hat», sagt die zierliche junge Frau, Tochter eines Thurgauer Fotohistorikers und einer Malaysierin. Während sich ihre Schwester mit dem Computer beschäftigte, zeichnete und bastelte Sarah lieber. Mit 13 gewann sie ihren ersten grösseren Zeichnungswettbewerb: Die Coop-Zeitung ermöglichte ihr eine Begegnung mit dem Comiczeichner Franz Zumstein in dessen Atelier. «Heute sind wir Berufskollegen – wer hätte das damals für möglich gehalten?», sagt sie und lacht.
Später, im Studium in Visueller Kommunikation mit der Vertiefung Illustration Fiction an der Hochschule Luzern, kam Sarah Gasser aufs Papier zurück: Als Abschlussarbeit baute sie ein Pop-up-Buch – ein mechanisch komplexes Werk, in dem beim Aufschlagen einer Seite bisher unsichtbare Elemente herausspringen. «Ich wollte zeigen, was Papier alles kann, und die Grenzen dieses Materials ausloten», sagt sie. Für ihr detailreiches Buch, das die Geschichte von zehn kleinen Schatzsuchern erzählt, wurde sie mit dem Förderpreis der Hochschule Luzern ausgezeichnet.
Das Studium im Departement Design & Kunst beflügelte sie geradezu: «Endlich war ich unter Gleichgesinnten.» In der kleinen Illustration-Fiction-Klasse seien sie individuell gefördert worden, hätten viele Freiheiten gehabt und sich gegenseitig angespornt: «Es war eine intensive, tolle Zeit.» Umso härter war die Landung im Arbeitsleben: Im Animationsstudio war das Arbeitstempo sehr hoch. Ausserdem durfte sie nur noch digital arbeiten: «Ich hatte keine Stifte und kein Papier mehr, nur ein Tablet», sagt sie. «Das war hart.»
Heute ist sie froh um dieses Wissen. Als selbstständige Illustratorin zeichnet und illustriert sie vieles digital. «Das hat den Vorteil, dass ich Änderungswünsche von Kunden schnell und flexibel umsetzen kann.» Am liebsten aber arbeitet sie analog – mit Papier, Schere und Leim. Für sie ist das die grössere Herausforderung. «Eine Explosion digital darstellen kann jeder. Dasselbe mit Papier zu versuchen, ist viel spezieller.»
Autorin: Tatjana Stocker
Bild: Christoph Kaminski
Zur Person
Sarah Gasser (geboren 1987), aufgewachsen in Weinfelden (TG). Sie besuchte die Pädagogische Maturitätsschule Kreuzlingen, absolvierte den einjährigen Vorkurs an der Zürcher Hochschule der Künste und studierte anschliessend an der Hochschule Luzern. Für ihre 2012 eingereichte Bachelor-Arbeit im Bereich Illustration Fiction erhielt sie den Förderpreis der Hochschule. Heute lebt und arbeitet sie als selbstständige Illustratorin in Winterthur.