Interview: Janet Stojan
Susanna Niehaus, eines Ihrer neusten Nationalfonds-Projekte, das Sie gemeinsam mit Margot Vogel leiten, beschäftigt sich mit dem Thema «Fürsorgepraxis und Kindesvernachlässigung: Rekonstruktion und Analyse der Diskurse zu Familie, Erziehung und Mutterschaft.» Wo genau setzt diese Studie an, welche wichtigen Erkenntnisse erhoffen Sie sich von ihr?
Zum Schutz betroffener Kinder werden weitreichende Eingriffe in das Familienleben legitimiert. Die Fürsorgepraxis an sich bzw. der Begriff als solches, was nun genau Kindesvernachlässigung ist, variiert dabei stark auf der Zeitachse. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stand der Begriff der körperlichen Versorgung im Vordergrund, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag der Fokus auf der erzieherischen Vernachlässigung und Anfang des 20. Jahrhunderts beinhaltete der Begriff der Verwahrlosung unzureichende Erziehung, aber auch stark moralisch konnotierte Zustände. Von staatlichen Eingriffen waren oft ledige Mütter betroffen, begründet mit unzureichender Erziehung, ohne dabei die ökonomische Situation dieser Familien zu berücksichtigen. Von der Studie erhoffen wir uns Erkenntnisse über die Wirkung von Normen bei der Bearbeitung von Fällen der Kindesvernachlässigung – also inwieweit normative Erwartungen bei der Fallbearbeitung eine Rolle spielen. Dieses Wissen soll dann zur Sensibilisierung beitragen, die heutige Entscheidungspraxis unterstützen und schwierige Entscheidungsprozesse erleichtern.
Über zurückliegende Nationalfonds-Studien haben Sie die Situation geistig behinderter Opfer sexueller Gewalt im Strafverfahren untersucht. Also die Situation von Menschen, die einen ganz besonderen Schutz benötigen. Werden die vorhandenen Strukturen diesen Menschen gerecht?
Geistig behinderte Opfer haben weniger Chancen auf ein gerechtes Verfahren. Juristen und Polizistinnen sind wenig sensibilisiert und haben oft eine falsche Vorstellung von geistiger Behinderung. Für ein Strafverfahren kann das fatale Konsequenzen haben. Das Problem liegt zeitlich schon vor dem Strafverfahren, denn das starke Machtgefälle zwischen Menschen mit und ohne Behinderung macht sexuelle Übergriffe überhaupt erst möglich. Die starke Abhängigkeit von Betreuungspersonen, Schwierigkeiten, sich mitzuteilen und auch häufig unzureichende sexuelle Aufklärung machen Menschen mit geistiger Behinderung zu vergleichsweise leichten Opfern. Wir wissen, dass Täterinnen und Täter diese relative Schutzlosigkeit ausnutzen. Sie suchen sich Opfer nach wahrgenommener Schutzlosigkeit, nach Erwartung des geringstmöglichen Widerstandes aus und bauen darauf, dass sich diese Opfer danach nicht überzeugend ausdrücken und mitteilen können. Wenn diese Umstände verkannt und Betroffene nicht entsprechend befragt werden, dann kann von Verfahrensgerechtigkeit nicht die Rede sein. Um dieses aus der Studie gezogene Wissen weiterzugeben, haben wir Weiterbildungen konzipiert – beispielsweise für ermittelnde Polizisten und Polizistinnen. Richter und Richterinnen sind mit solchen Weiterbildungsangeboten schwerer zu erreichen. Das ist bedauerlich, denn die Studie zeigte nämlich, dass auch Angehörige der Strafjustiz, die das Verfahren führen oder Entscheidungen treffen, zu diesem Thema wenig Wissen hatten. Mein Eindruck ist allerdings, dass sich in der Praxis schon einiges verbessert hat, aber eben nicht auf allen Ebenen. Gerichtsfälle zeigen nach wie vor das Grundproblem: In diesem sprachlastigen Justizsystem hat ein Opfer mit geistiger Behinderung wenig Chancen, mit seinen speziellen Bedürfnissen wahrgenommen und angemessen behandelt zu werden. Zu komplizierte Fragen – teilweise Jahre nach dem Vorfall – sind dabei nur der Anfang.
Ebenso in hohem Masse schutzbedürftig sind Kinder. Generell, aber erst recht, wenn sie Opfer sexueller Gewalt wurden. Um den erhöhten Anforderungen in solchen Fällen gerechter werden zu können, haben Sie den Leitfaden «Entwicklungsgerechte Befragung von Kindern im Strafverfahren» entwickelt. Was können Richter, Polizistinnen oder Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen bei der Befragung eines Kindes mit sexueller Gewalterfahrung alles falsch machen?
Wenn rechtliche, entwicklungspsychologische und aussagepsychologische Kenntnisse fehlen, kann man alles Mögliche falsch machen. Angefangen bei einer nicht korrekten Rechtsbelehrung oder bei einer Missachtung strafprozessualer Vorgaben, wodurch eine Aussage nicht verwertbar ist. Wenn ein Kind beispielsweise keine Aussage machen möchte und aus dem Raum möchte, darf es nicht gegen seinen Willen weiterhin befragt oder im Raum festgehalten werden – auch wenn das noch so wohlwollend und gut gemeint seitens der Erwachsenen daherkommt. Aus entwicklungs- und aussagepsychologischer Sicht ist alles, was Erinnerungsprozesse stört, zu vermeiden. Kindern müssen auch Denkpausen gelassen werden, sie sollten nicht unterbrochen werden und erst recht sollten ihnen keine Vorwürfe gemacht werden im Sinne von «Warum hast du das nicht deiner Mutter erzählt?». Sich betroffen zu zeigen und Wertungen vorzunehmen («Das ist ganz schlimm, was er gemacht hat.» oder «Das darf sie nicht.») ist ebenfalls nicht angemessen und unprofessionell. Solche Bemerkungen beeinflussen das Kind und können die Aussagebereitschaft verändern. Falsch ist auch alles, was die Aussagequalität beeinträchtigt. Ganz viele Fragen zu stellen, statt frei berichten zu lassen, Skepsis zu signalisieren bei erwartungswidrigen Angaben – all das ändert das Aussageverhalten. Suggestive Versprechungen, jeglicher Druck oder Rollenspiele sind unangebracht. Aber der zentrale Fehler, der immer wieder zu weiteren Fehlern führt, ist die mangelnde Ergebnisoffenheit. Nur die aussagende Person weiss, was wirklich gewesen ist, und Befragende müssen mental und fragetechnisch zulassen können, dass gar nichts oder etwas ganz anderes vorgefallen ist. Nur dann haben wir eine Chance, der Wahrheit wirklich näher zu kommen. Man ist gut beraten, bei der Personalauswahl besonders darauf zu achten, dass Kandidaten oder Kandidatinnen die Bereitschaft dazu mitbringen.
Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Kind zu Unrecht als Opfer sexueller Gewalt gesehen wurde. Welche Mechanismen kommen in diesen Fällen tragischerweise zusammen?
Der Missbrauchsverdacht steht in diesen Fällen meist schon sehr lang im Raum, bevor das Kind sich geäussert hat. Das Umfeld ist schon lange davon überzeugt, dass etwas vorgefallen ist. Ausgangspunkt bilden dabei häufig Fehlannahmen über das kindliche Verhalten, zum Beispiel sexuelles Verhalten wird bei Kindern als seltsam empfunden, obwohl das Sichselbst- Erkunden oder soziosexuelle Handlungen natürliche Prozesse sind. Oder Auffälligkeiten werden als Missbrauchssymptome angesehen, wie beispielsweise Bettnässen, Albträume, Zähneknirschen, bestimmte Zeichnungen. Dabei sagt die Forschung ganz klar, dass es keine speziellen Missbrauchssymptome gibt, die Rückschlüsse auf einen sexuellen Missbrauch zulassen. Im Aussageverhalten wird angenommen, dass Kinder sexuellen Missbrauch auf Nachfrage grundsätzlich leugnen, auch das ist so nicht richtig. Geht man aber mit diesen Annahmen in die Kindesbefragung, kann diese nur suggestiv werden. In dieser Konstellation sind Kinder noch lange vor der Anzeigeerstattung oftmals über Wochen, Monate oder Jahre hochsuggestiver Aufdeckungsstimmung ausgesetzt. Die Kinder spüren, dass der Erwachsene davon ausgeht, dass etwas passiert ist. Andere Auslöser für auffälliges Verhalten, beispielsweise Trennungen, werden nicht gesehen oder ignoriert, alles Denken geht nur noch in eine Richtung. Durch diese Stimmung, die Überzeugung, die Sorge und den entstandenen Detektiveifer kann es zu Erinnerungsveränderungen kommen. Die Forschung hierzu zeigt, dass es möglich ist, Geschehnisse, die nie passiert sind, in unser Gedächtnis einzupflanzen, sogenannte Scheinerinnerungen. Durch die Befragungen entstehen geistige Bilder, sie werden immer detaillierter, lebendiger und lebensechter. Irgendwann werden diese Bilder mit der echten Erinnerung verwechselt. Unterstützt und beschleunigt wird das Ganze noch dadurch, dass oft zu dem Beschuldigten der Kontakt abgebrochen wird. So verständlich das bei einem solchen Verdacht ist – so können entstehende Scheinerinnerungen nicht mehr mit der Realität abgeglichen werden, es entsteht ein Monsterbild. Für das Entstehen von Pseudoerinnerungen muss das Kind aber auch empfänglich sein, was sich aus einem Mangelzustand heraus ergibt. Emotionaler Zuneigungsmangel oder Stress, der Wunsch, es dem Erwachsenen recht machen zu wollen, begünstigen die Suggestionsanfälligkeit. Wenn es einem nicht gut geht, ist man viel anfälliger für solche Prozesse.
Welche Personenkreise sehen Sie besonders in der Verantwortung, die richtigen Fragetechniken zu erlernen, um sensibel mit den verletzten Kindern umgehen zu können? Wie beurteilen Sie deren Resonanz auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse Ihres Instituts?
Polizei, Staatsanwaltschaft, Vertreterinnen der Justiz, aber auch Berufsgruppen, die tätig werden, bevor es zur Anzeige kommt: Sozialarbeitende, Psychologinnen und Psychologen, Kindes- und Erwachsenenschutz- Behörde, Beratungsstellen, psychotherapeutische Praxen. Der Leitfaden «Entwicklungsgerechte Befragung von Kindern im Strafverfahren» wurde sehr gut angenommen und wird als sehr hilfreich angesehen. Ähnlich verhält es sich mit dem von uns entwickelten Befragungstool, das flächendeckend gelehrt und bereits in mehreren Kantonen eingeführt wurde. Dieses Tool ist eine Umsetzung des Leitfadens, indem der gesamte Befragungsablauf genau vorgegeben wird. Von der Rechtsbelehrung bis zur Verabschiedung ist darin alles festgehalten inklusive möglicher Probleme, für die mit einer Wenn-dann-Logik Lösungen aufgezeigt werden. Hält man sich daran, wird man quasi mechanisch daran gehindert, suggestive Fragen zu stellen. Die Praxis hatte lange nach so einer Lösung verlangt, entsprechend gut und hoch ist die Resonanz.
Ihrer Vita kann man entnehmen, dass Sie sich früh der Kriminologie zugewandt haben. Was fasziniert Sie an diesem Thema?
Das Themenfeld war mir schon als Kind vertraut, weil mein Vater früher Richter in Strafsachen gewesen ist. Mit 21 habe ich dann ein Praktikum in der diagnostischen Abteilung einer deutschen Strafanstalt gemacht, ich habe dort auch immer in den Semesterferien gearbeitet. Rückwirkend würde ich sagen, dass ich da schon angebissen habe. Ich habe dann versucht, mein Studium so gut es ging nach meiner Interessenlage auszurichten. Meine Dissertation war genau zu dem Thema, indem ich bis heute als Sachverständige in Strafverfahren arbeite. Mein soziales Umfeld konnte meine Berufswahl nicht immer so gut nachvollziehen, aber ich habe an diesem Thema nie gezweifelt. Es faszinieren mich Phänomene oder Fälle, die vielleicht eher schwer nachzuvollziehen sind, von denen sich viele vielleicht auch mit Grausen abwenden. Ich möchte auch diese verstehen und erklären können. Im Kontrast zur Forschung erdet mich immer wieder die Arbeit in Strafverfahren direkt am Menschen.
Perspektivisch haben Sie sowohl auf die Täterseite als auch auf die Opferseite einen umfassenden Blick. Welche Vor- oder Nachteile ergeben sich für Sie aus dieser Ambivalenz für Ihre Arbeit?
Ein umfassender Blick auf Phänomene kann nur ein Vorteil sein, umfassendes Wissen hilft dem Fallverständnis. Ich persönlich kann keine Nachteile erkennen. Innerhalb eines Falles ist die Begutachtung der Täter- und Opferseite strikt getrennt, so dass es da keine Überschneidungen gibt. Professionellerweise sollte die angesprochene Ambivalenz nicht existieren. Ich übernehme keine Perspektive, schlage mich auf keine Seite, sondern habe einen neutralen Blick auf den Fall. Wenn eine gewisse Emotionalität oder sogar Verbitterung eintreten würde, müsste ich damit aufhören. So eine Gemütslage würde meine Neutralität und somit die Beurteilung des Einzelfalles beeinträchtigen.
Wie gelingt es Ihnen, den inneren Abstand zu den mitunter schweren und belastenden Themen zu wahren, wie gleichen Sie das für sich aus?
Als Berufsanfängerin testet man aus, ob das für einen selbst machbar ist oder nicht. Würde ich mich nicht in der Lage sehen, den inneren Abstand generell zu wahren, würde ich diesen Beruf nicht ausüben. Hinzu kommt, dass juristische Verfahren und ihre Sprache sehr formalisiert sind. Das hat den Effekt, dass es manchmal ziemlich technisch wird, auch diese Abstraktheit hilft dabei, eine gewisse Distanz zu wahren. Aber es ist schon so, dass man im Rahmen einer Exploration ziemlich nah an das Leiden herankommt. Es sind weniger die Delikte an sich, die mir zu schaffen machen, bisweilen ist es aber der Hintergrund. Die Familiengeschichten, die Reproduktion von Chancenlosigkeit durch Sozialisationsbedingungen, die man immer mitbekommt, egal von welcher Seite. Da hilft der Austausch in Supervision und Intervision, um professionell zu bleiben.
Welchem Thema möchten Sie sich in Zukunft noch widmen – gibt es da ein ganz konkretes auf Ihrer Agenda?
Kinder sind in der Praxis oft mit unerfahrenen Befragenden konfrontiert. Unsere Idee ist, Kinder-Avatare zu entwickeln, die eine lebensechte Simulation von Befragungen erlauben. Mit denen können Befragende üben und auch eine systematische Leistungsrückmeldung erhalten. Diese Software wäre auch für die Personalauswahl geeignet, wenn man denn die Fähigkeiten und die Eignung im Vorfeld testen möchte. Gerade sozial benachteiligte oder geistig beeinträchtigte Kinder sind bei Befragungen im besonderen Masse auf Erfahrung und professionelle Fragestellungen angewiesen. Wir sind gerade dabei, Unterstützerinnen und Förderer für dieses Projekt zu gewinnen, eine Teilfinanzierung steht schon.
Mögen Sie Krimis?
«Tatort» ist mein Pflichtprogramm. Ich kenne jede Folge.