Aktuelle Medienresonanz zu diesem Thema:
«Das Sozialwesen boomt» (Luzerner Zeitung, 7. August 2017)
Sonja Kobelt
Der Sozialbereich wächst und wächst; gemäss der Studie «Beschäftigung und Produktivität im Sozialbereich » des Bundesamts für Sozialversicherungen bis 2030 auf 317’000 Vollzeitstellen. Das entspricht einer Zunahme um 52 Prozent. Kann eine Branche, die überwiegend öffentlich finanziert ist, immer weiter wachsen? «Bleiben alle Einflussfaktoren gleich, müssen wir uns überlegen, wie wir den Bereich künftig finanzieren und organisieren», so Donat Knecht, Mitautor der Studie und Dozent am Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern. Die Studie stellt eine erste Auslegeordnung dar: Wie hat sich die Beschäftigung im Sozialbereich entwickelt und was sind die Gründe dafür? Wie wird sie sich entwickeln und wo liegen Potenziale, um effizienter zu werden?
Die Gesellschaft wandelt sich – mit Folgen
Wachstum im Sozialbereich wird kritisch beäugt; schnell ist die Rede von einer Sozialbranche, die sich selber aufbläht. Donat Knecht stellt klar: «Der Sozialbereich reagiert auf gesellschaftliche Entwicklungen, er ist nicht deren Verursacher.» Die Studie gibt ihm recht. Sie zeigt auf, wie sich die Beschäftigung im Sozialbereich von 1995 bis 2013 entwickelt hat. Das Resultat: ein im Vergleich mit der Gesamtwirtschaft überdurchschnittlicher Anstieg von plus 88’000 Vollzeitstellen; das ist eine Zunahme um 73 Prozent. Auf den ersten Blick ein gewaltiges Wachstum. Interessant wird es, wenn man genauer hinschaut: Absolut gesehen ist der Bereich der Alters- und Pflegeheime am meisten gewachsen, prozentual der Bereich der Kinderbetreuung. Dem liegt keine sich selbst reproduzierende Sozialindustrie zugrunde, sondern eine Gesellschaft, die sich verändert hat. Die Schweizer Bevölkerung wächst, die Menschen werden älter, und immer mehr Mütter sind erwerbstätig. Diese Faktoren beeinflussen das Wachstum auch künftig am stärksten. Dem Sozialbereich droht ein massiver Fachkräftemangel, und er ist unter Druck, seine Arbeit zu legitimieren. Die rege Teilnahme an der Studie lässt ahnen: Die Branche hat den Handlungsbedarf erkannt. «Der Fachkräftemangel ist bereits spürbar. Soziale Institutionen wollen und müssen sich fit machen für die Zukunft. Das zeigen auch verschiedene Aufträge, die wir als Hochschule erhalten», so Donat Knecht.
Was nun?
Die genannten Wachstumsfaktoren lassen sich kaum beeinflussen. Menschen werden älter. Erwerbstätige Mütter sind politisch und gesellschaftlich erwünscht. Was ist also zu tun? Die Studie liefert kein Patentrezept, jedoch rund 50 Ansatzpunkte. Sie zielen darauf, den Sozialbereich effizienter zu machen. Akteurinnen und Akteure aus allen Ebenen des Sozialwesens haben diese eingebracht. Die Ideen reichen von einer aktiveren schweizweiten Sozialplanung über den Aufbau von Kooperationen zwischen sozialen Einrichtungen bis zum Einsatz von Robotern in Alters- und Pflegeheimen. Bund und Kantone sollen etwa prüfen, wie sich Anreize bei den Ergänzungsleistungen auf die Wahl der Versorgungsform auswirken. Den Grund kennen viele, die pflegebedürftige Verwandte haben: Nur wenige Kantone finanzieren älteren Menschen ein unter Umständen besser geeignetes und möglicherweise günstigeres betreutes Wohnen. Ziehen diese aber in ein Heim, fliessen die Gelder. Liegen hier Fehlanreize vor? Möglicherweise. Doch einfache Lösungen lässt das komplexe Sozialsystem nicht zu. Ludwig Gärtner, stellvertretender Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen, ist zurückhaltend: «Diese Frage betrifft alle: die öffentliche Hand, Versicherer, Leistungsanbieter, Patientinnen und Patienten. Zudem ist es sehr schwierig, den objektiven Bedarf an medizinischen Leistungen festzulegen. Deshalb wäre ein Umbau der Ergänzungsleistungen bei pflegebedürftigen Menschen politisch wie fachlich ein hochkomplexes Projekt.» Ob die Ergebnisse zu Massnahmen auf Ebene Bund führen, ist laut Gärtner noch nicht absehbar. Die grossen Innovationen, so scheint es, bleiben vorerst aus. Die Ideen aus der Studie bieten aber auch Hand, einfach loszulegen: sich zu «best practices» auszutauschen, die Kompetenzen des Assistenzpersonals zu stärken, Aufgaben an Dritte auszulagern.
Hochschule treibt Innovation voran
Fachkräftemangel und Effizienzfragen – hier sind auch die Hochschulen gefragt. Ludwig Gärtner meint: «Hochschulen können einen Beitrag leisten, indem sie Forschung betreiben und das so generierte Wissen weitergeben. Und indem sie die Frage der Produktivität auch in der Ausbildung thematisieren.» Donat Knecht sieht darüber hinaus die Hochschulen als Treiberinnen von Innovation. «Wir forschen und entwickeln interdisziplinär und bringen alle Beteiligten aus diesem sehr heterogenen Feld zusammen.» Klar ist für ihn, dass die Sozialbranche reagieren muss, um das prognostizierte Wachstum zu legitimieren: «Unsere ‹Produktivität› ist der Nutzen für die Gesellschaft. Das ist schwierig zu messen. Aber es ist eine Aufgabe der Branche aufzuzeigen, welche Wirkung unsere Arbeit hat.» Die Studie gibt erste Inputs dazu. Spannend wird es, wenn es um konkrete Massnahmen geht. Knecht: «Wir sind dabei, in einen Engpass zu geraten. Es kann nötig werden, den Sozialbereich neu zu denken.»
Drei Fragen an Daniel Krucher, Vizedirektor und Ressortleiter Ausbildung an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Daniel Krucher, finde ich mit einem Studium in Sozialer Arbeit heute problemlos eine Stelle?
Die Studie bestätigt unsere Einschätzung bezüglich wachsendem Bedarf an Fachpersonen im Sozialbereich. Unsere Studierenden finden in der Regel bereits während der Ausbildung oder unmittelbar nach dem Abschluss eine ihren Qualifikationen entsprechende Stelle.
Gibt es einen «Run» auf das Studium der Sozialen Arbeit?
Von einem eigentlichen «Run» gehen wir nicht aus, von einem zunehmenden Interesse hingegen schon. Wir rechnen damit, dass wir bis 2027 rund 1’000 Studienplätze anbieten. Heute sind es 761.
Ist Effizienz im Sozialbereich auch ein Thema im Studium?
Im Gegensatz zur früheren landläufigen Meinung arbeitet die überwiegende Mehrheit der Fachkräfte der Sozialen Arbeit seit vielen Jahren systematisch und zielorientiert. Wir bereiten unsere Studierenden auf diese prozessbegleitende Aufgabe vor, indem diese entsprechende theoriegeleitete Handlungskreisläufe und Handlungsschritte einüben, in der Praxis anwenden und damit verinnerlichen.