Interview: Isabel Baumberger
Regula Wyrsch, Sie leiten das Institut Sozialarbeit und Recht, Jan Thivissen, Sie arbeiten dort als Dozent und Projektleiter. Demnach haben Sie viel mit der juristischen Seite der Sozialarbeit zu tun. Warum machen gerade Sie die «Soft Skills» im Umgang mit Klientinnen und Klienten zum Thema?
Wyrsch: Unsere Hochschule verfügt über hervorragende Expertise in rechtlichen Belangen der Sozialarbeit, und das soll auch so bleiben. Nur stellen wir im Dialog mit der Praxis fest, dass oft viel Sorgfalt auf verwaltungstechnisch korrekte Abläufe und Kontrollmechanismen verwendet wird. Aber wenn es um «weichere » Themen geht, wie etwa die Ermutigung der Klientin bzw. des Klienten zum Entwickeln eigener Ideen oder um die gemeinsame Erarbeitung eines Handlungsplans, dann heisst es in manchen Einrichtungen: «Dafür haben wir nicht auch noch Zeit.» Es ist dann den einzelnen Sozialarbeitenden überlassen, ob sie noch auf einen ressourcenorientierten, unterstützenden Umgang achten wollen und können. Wir sehen auch, dass gerade Mitarbeitende aus der Sozialhilfe sowie dem Kindes- und Erwachsenenschutz eher Weiterbildungen zu juristischen Fragen absolvieren als zu Themen wie Verhaltensorientierung oder psychosoziale Unterstützung.
Woran liegt das?
Wyrsch: Diesbezüglich spielt die Führungskultur einer Institution eine zentrale Rolle: Wie wichtig ist ein ressourcen- und kompetenzorientierter Umgang, zum Beispiel mit jemandem, der Sozialhilfe bezieht? Wird in Zielvereinbarungsgesprächen danach gefragt? Tauscht man sich regelmässig im Team darüber aus? Verwalten wir unsere Klientinnen und Klienten oder geht es uns auch um deren psychosoziales Wohlbefinden? Nur wer sich diese Fragen stellt, etabliert in seinem Team eine Kultur der Ermutigung und fördert die entsprechende Methodenkompetenz der Mitarbeitenden.
Aus Sicht der Gesellschaft sollen Sozialarbeitende vor allem dafür sorgen, dass der Staat nicht zu viel Geld ausgeben muss und Betroffene so rasch wie möglich wieder auf eigenen Beinen stehen. Steht dieser Anspruch und der damit verbundene Kontrollauftrag nicht notwendigerweise im Widerspruch zu einer partnerschaftlichen, aufbauenden Haltung?
Thivissen: Tatsächlich gibt es Situationen, in denen die verschiedenen Funktionen miteinander in Konflikt geraten. Wenn zum Beispiel ein Klient arglos erzählt, dass er gerade ein Geldgeschenk von seinem Onkel erhalten hat, wird ihm das von der Sozialhilfe abgezogen werden müssen. Darin liegt aber meiner Meinung nach kein unauflösbarer Widerspruch. Denn wenn ich eine Vertrauensbeziehung aufbauen kann und die Lebenswelt des Klienten verstehe, kann ich ihn auch darin unterstützen, eigene Ressourcen zu aktivieren, sein Verhalten zu ändern und so aus der Krise herauszufinden. Um solche Prozesse auszulösen oder voranzutreiben, gibt es eine Vielfalt an sozialarbeiterischen Methoden, die wir den Studierenden im Bachelor-Studiengang und in Weiterbildungsprogrammen vermitteln. Zudem implementieren und erforschen wir diese Methoden in sozialen Einrichtungen.
Der Ruf nach Reintegration unterstützungsbedürftiger Menschen wird immer lauter, andererseits gibt es für viele von ihnen schlicht keinen Platz in der Erwerbswelt. Gilt in solchen Fällen der berüchtigte Sozialarbeitersatz: «Schön, dass wir darüber reden konnten.»? Denn konkret ändern wird ein gutes Gespräch ja nichts …
Thivissen: Nein, aber dennoch ist es wichtig. Wenn jemand, der in der Krise nach dem letzten Stecken – der Sozialhilfe – greift, ist er oft sehr verzweifelt, hat viele Sozialkontakte verloren, sein Selbstbewusstsein ist im Keller. Wenn wir diese Person psychosozial stärken und aufbauen können, haben wir mindestens die Chance, zu erwartende Folgeschäden zu verhindern. Das hat mit der vielgeschmähten Verkuschelung nichts zu tun. Denn eine Person, die wieder Mut fasst, sich unter Menschen traut und neben ihren Problemen auch Möglichkeiten sieht, hat zum Beispiel ein wesentlich kleineres Risiko, chronisch krank zu werden – und dann noch mehr Unterstützung zu brauchen. Bildhaft gesprochen: Finanziell-administrative Hilfe ist das Auffangnetz nach einem Sturz; sich dann aufzurappeln und wieder einen Weg zu finden, wird durch soziale Methoden unterstützt.
Wyrsch: Abgesehen davon ist es auch eine Frage der Ethik. Denn wir wollen ja Menschen, die sich mit den Leistungsanforderungen unserer Gesellschaft schwertun, nicht nur als Problemfälle sehen und kaufmännisch managen. Jede Klientin, jeder Klient hat neben
dem Anspruch auf existenzsichernde Unterstützung auch das Recht auf Würde, Respekt und eine grundsätzlich wertschätzende Haltung der zuständigen Fachperson. Nichts gegen einen sorgfältigen Umgang mit Steuergeldern, aber eine generelle Kultur des Misstrauens
bringt niemanden weiter.
Sozialarbeitende haben manchmal gravierende Entscheidungen zu treffen, zum Beispiel im Kindes- und Erwachsenenschutz. Was nützen Methoden der einfühlsamen Gesprächsführung, wenn es darum geht, mit einer Mutter über einen allfälligen Obhutsentzug für ihr Kind zu sprechen?
Thivissen: Gerade in solchen Situationen ist Methodenkompetenz und Sicherheit in Gesprächsführung absolut zentral. Mir fällt oft auf, dass sich Sozialarbeitende aus Angst, etwas falsch zu machen, sehr verblümt ausdrücken – und dann nicht verstehen, warum das Gespräch schiefgeht. Ich kann jedoch einer Mutter freundlich, aber unmissverständlich klarmachen, dass es um einen Entscheid über den Aufenthalt des Kindes geht – und daneben Verständnis für ihre Sorgen signalisieren, die sie sich gerade macht. Das ist anspruchsvoll und erfordert ein hohes Mass an Professionalität.
Wyrsch: Genau. Und zwar geht es hier um sozialarbeiterische Kompetenzen, diese Präzisierung ist mir wichtig. Denn gerade an der Schnittstelle zwischen Recht und Psychologie braucht es sozialarbeiterische Fertigkeiten. Diese Fachlichkeit dürfte insbesondere im Kindes- und Erwachsenenschutz, der sehr von der juristischen Denkweise dominiert ist, noch mehr zum Tragen kommen. Dafür setzen wir uns ein.
Es gibt heute immer noch kleinere Gemeinden, die bei der Besetzung einer Stelle im Sozialdienst auch jemanden mit KV-Ausbildung akzeptieren. Warum sollten sie eine Sozialarbeiterin bzw. einen Sozialarbeiter einstellen?
Thivissen: Weil mit kaufmännischem Denken zwar die administrativen Abläufe bedient werden können, also quasi die komplexe «Maschine», in der staatliche soziale Unterstützung organisiert ist. Hilfesuchende Menschen entsprechen aber mit ihren individuellen Geschichten und Voraussetzungen der Maschine oft nicht, so dass nach beiden Seiten Übersetzungsarbeit nötig ist. Diese vielschichtige Aufgabe kann nur eine Sozialarbeiterin, ein Sozialarbeiter gut erfüllen. Davon bin ich hundertprozentig überzeugt.
«Kompetenzen stärken, die ein Mensch in sich trägt»
Drei Fragen an Andreas Zürcher, Verantwortlicher des MAS-Programms Lösungs- und Kompetenzorientierung an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit.
Andreas Zürcher, an anderen Fachhochschulen spricht man von Lösungs- und Ressourcenorientierung – warum verwenden Sie den Begriff Kompetenz?
Ressourcen können unter anderem auch materielle oder finanzielle Mittel bzw. Zugangsmöglichkeiten dazu sein. Wir wollen aber in erster Linie diejenigen Ressourcen stärken, die ein Mensch in sich trägt, also Fertigkeiten, Fähigkeiten und Möglichkeiten, die er aus sich selbst heraus schöpfen kann. Ihn dabei zu unterstützen, diese Kompetenzen zu aktivieren und weiterzuentwickeln, sehen wir als Aufgabe der Sozialen Arbeit an. Dabei gehen wir von den Zielen der Klientin, des Klienten aus.
Und wenn das unrealistische Ziele sind?
Ich habe lange mit Jugendlichen gearbeitet, da trifft man diese Situation öfter an: Jemand kommt aus der Sekundarschule, hat keine Lehrstelle und Schwierigkeiten mit konzentriertem Arbeiten, möchte aber Linienpilot werden. Wenn ich lösungs- und kompetenzorientiert arbeite, sage ich dieser jungen Person nicht: «Vergiss es, das ist unrealistisch!», sondern versuche mit ihr zusammen herauszufinden, was auf dem Weg dazu die ersten Schritte sein könnten. Die Erfahrung aus Praxis und Forschung zeigen, dass Ermutigung und Hoffnung wichtige Erfolgsfaktoren für Problemlösungen sind. Die Rahmenbedingungen, nämlich dass es zum Beispiel für Menschen mit wenig Bildung und schlechten beruflichen Qualifikationen immer weniger Jobs gibt, können wir nicht ausser Kraft setzen. Das muss auf politischer Ebene geschehen, wo sich Sozialarbeitende meiner Meinung nach für die Veränderung dieser Bedingungen einsetzen sollten.
Auch für die Sozialarbeitenden sind die Rahmenbedingungen oft schwierig. Im MAS-Programm Lösungs- und Kompetenzorientierung lernt man laut Broschüre, seine Aufgaben «wirkungsvoller, kreativer und mit mehr Leichtigkeit» zu bewältigen. Kollidiert das nicht mit hohen Fallzahlen und Zeitmangel?
Im Gegenteil, gerade im Umgang mit diesen Herausforderungen ist Lösungs- und Kompetenzorientierung das Mittel der Wahl. Denn mit diesem Ansatz können wir auch die eigenen Ressourcen wirkungsvoll einsetzen. Eine gute Auftragsklärung zu Beginn einer Beratung beispielsweise ist zur Vermeidung späterer Leerläufe zentral. Die Lösungs- und Kompetenzorientierung beinhaltet hervorragende Methoden dafür, die auch im Zwangskontext funktionieren.