Interview: Eva Schümperli-Keller
Daniel Kunz, Ziel der Studie war, den Professionellen der Sozialen Arbeit Daten als Grundlage für eine qualitativ hochstehende Arbeit in Bildung und Beratung zur Verfügung zu stellen. Hat man denn bis jetzt in Unkenntnis der Fakten an den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten vorbei beraten?
So kann man das sicher nicht sagen. Es ist aber eine Tatsache, dass die Soziale Arbeit sich mit der Gesellschaft wandelt. Als Profession begründet sie ihr Handeln auf Daten und Fakten. Das ist bei der Sozialen Arbeit nicht anders als bei jeder anderen Profession. Damit dieser Anspruch eingelöst werden kann, müssen die Daten jedoch zuerst einmal bereitgestellt werden. Dies war das Ziel unserer Studie.
Mit einem «Märchen», das immer wieder von den Medien kolportiert wird, hat die Studie aufgeräumt: dass die Schweizer Jugendlichen besonders früh Sex hätten. Tatsache ist: Der Mittelwert liegt im 17. Altersjahr. Hat diese Erkenntnis Auswirkungen auf die Beratungsangebote für die Jugendlichen?
Der Mittelwert für den ersten Geschlechtsverkehr liegt seit vierzig Jahren im 17. Altersjahr. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen hat also in diesem Alter sexuelle Erfahrungen. Es ist daher sinnvoll, die Jugendlichen über Schwangerschaftsverhütung, sexuell übertragbare Infektionen oder sexuelle Gewalt zu informieren, bevor sie sexuell aktiv werden, denn Information ist der beste Schutz vor unüberlegten Handlungen. Alters- und entwicklungsadäquate Sexualaufklärung ist eine Erfolgsgeschichte und führt, wie es unsere Daten zeigen, keineswegs dazu, dass die Jugendlichen immer früher Sex haben, wie Kritikerinnen und Kritiker behaupten. Ich hoffe deshalb, dass die Studie mithilft, eine faktenbasierte umfassende Sexualaufklärung in die Schulen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu bringen.
Sexuelle Gesundheit wurde in der Schweiz bis jetzt nicht umfassend untersucht; es gibt grosse Forschungslücken. Weshalb ist dies so?
Einzelne Bereiche, wie etwa die Bevölkerungsentwicklung, sind ausgezeichnet untersucht. Das Bundesamt für Statistik weiss beispielsweise, wie viele Kinder Frauen in der Schweiz durchschnittlich haben und in welchem Alter sie diese bekommen. Solche Daten sind für jeden Staat bedeutsam, denn er muss wissen, wie stark die Bevölkerung wächst, um die Infrastruktur entsprechend anzupassen. Auch im Gesundheitsbereich, in den beispielsweise die sexuell übertragbaren Infektionen fallen, stehen regelmässig aktualisierte Daten zur Verfügung; bei den HIV-Kohortenstudien gilt die Schweiz als Vorbild.
Andere Bereiche der sexuellen Gesundheit sind hingegen in der Schweiz bis jetzt wenig erforscht. Die Ursachen, die zu Problemen sexueller Gesundheit führen, wurden in der Regel nicht untersucht. Sexualität ist aber mehr als nur ein biologisches Bedürfnis; sie beruht in umfassender Weise auf Wechselwirkungen mit psychischen und sozialen Aspekten, die sich auf sexuelles Verhalten und Erleben auswirken. Diese Sichtweise von Sexualität bildet die Grundlage der neueren Konzeption sexueller Gesundheit. Eine solche Konzeption orientiert sich in der psychosozialen Arbeit – wie inzwischen in vielen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit auch – an den Ressourcen bzw. der Resilienz der Menschen. Unter einer solchen ressourcenorientierten Sichtweise rücken dann zusätzliche Themen ins Blickfeld der Forschung, insbesondere das Fühlen und Erleben in den verschiedenen Lebensphasen. Dieser umfassenden Sichtweise folgt auch die Eidgenössische Kommission für sexuelle Gesundheit in ihrer 2015 vorgelegten Definition sexueller Gesundheit für die Schweiz. Es wäre begrüssenswert, wenn diese offenere Sichtweise breitere Forschungen nach sich zöge, die zu einer nachhaltigeren Faktenbasierung im sozialarbeiterischen Handeln führten.
In welchen Bereichen haben Sie denn Forschungslücken entdeckt, die dringend gestopft werden müssten?
Lücken gibt es vor allem im Bereich des Fühlens und Erlebens, also zur Frage «Wie wird Sexualität erlebt?». Mehr Wissen zu diesem Thema würde den Sozialarbeitenden die Beratung erleichtern. Sagt ein Paar, es habe sich «auseinandergelebt», stecken oft auch sexuelle Probleme dahinter. Es wäre schön, wenn wir die Leute ermutigen könnten, in ihren Beziehungen offener über Sex zu reden. Sendungen wie «Liebesleben» können helfen, miteinander ins Gespräch zu kommen und Sexualität neu zu gestalten. Ich bedaure es deshalb, dass sich das SRF trotz guter Einschaltquoten und Kritiken gegen eine zweite Staffel entschieden hat.
Welche Erkenntnisse aus der Studie könnte die Arbeit der Professionellen besonders beeinflussen?
Viele Kolleginnen und Kollegen waren schockiert über die hohen Suizidraten unter homosexuellen Jugendlichen. Intensivere Forschungsarbeit zu diesem Thema wäre sehr zu begrüssen.
Die Studie trägt aber ganz allgemein dazu bei, die sexuelle Gesundheit als Handlungsfeld der Sozialen Arbeit zu etablieren, wo sie bis jetzt nur wenig wahrgenommen wurde. Studien wie die unsere fördern die Sensibilisierung für das Thema in der Ausbildung. Klientinnen und Klienten sind (auch) sexuelle Wesen, und deshalb können Bildung, Beratung und Betreuung den Aspekt sexuelle Gesundheit nicht ausblenden.
Wie werden die gewonnenen Erkenntnisse den Professionellen zugänglich gemacht?
Sie fliessen in die Aus- und Weiterbildung ein. Wenn wir das Thema sexuelle Gesundheit in der Lehre und Weiterbildung nicht thematisieren, wird es in der Praxis nur subjektiv, das heisst nach eigenem Gutdünken umgesetzt, und dies wiederum führt zu Handlungsunsicherheit. Der Anspruch der Profession ist jedoch, fachlich begründet, methodengeleitet sowie angemessen an Fall und Situation und orientiert an ethischen Standards zu handeln. Wissen schafft Handlungssicherheit.
Ihre Studie kommt zum Schluss, dass die wichtigste Aufgabe der Forschung die Durchführung einer umfassenden Langzeit- bzw. Längsschnittstudie ist. Kann die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit diese Aufgabe übernehmen?
Es wäre toll, Langzeit- oder Längsschnittstudien durchzuführen, beispielsweise zur Sexualität von jungen Erwachsenen, zum Coming-out und zur Sozialisierung von LGBT*-Jugendlichen oder aber zur Sexualität von Menschen mit Behinderung.
*Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender
CAS Sexuelle Gesundheit und sexuelle Rechte
Das CAS-Programm vermittelt, wie durch Empowerment und Partizipation netzwerkinitiierte Angebote mit Akteurinnen und Akteuren realisiert werden, die sexuelle Gesundheit stärken. Betrachtet werden zusätzlich zwei gesellschaftliche Zukunftsaufgaben: Sexuelle Gesundheit im Alter sowie in Migration und Integration.
Das CAS-Programm wurde überarbeitet. Neue Studiengangleiterin ist Yvonne Gilli. Sie arbeitet als Ärztin in eigener Gruppen-Praxis mit den Schwerpunkten Frauenheilkunde und Komplementärmedizin und ist Mitglied des Zentralvorstandes FMH. Bis 2016 war sie Nationalrätin und engagierte sich mit internationalen Non-Profit-Organisationen für die Verbesserung sexueller und reproduktiver Rechte in einem globalen Kontext.
Weitere Informationen: CAS Sexuelle Gesundheit und sexuelle Rechte