Interview: Isabel Baumberger
Walter Schmid, können Sie sich noch an Ihren ersten Arbeitstag an der damaligen Hochschule für Soziale Arbeit (HSA) im Herbst 2003 erinnern?
An den ersten nicht, aber der zweite ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Denn ich stand morgens – noch schlüssellos – vor verschlossenen Türen und musste Kieselsteine ans Fenster im ersten Stock werfen, um von einem freundlichen Mitarbeiter eingelassen zu werden. Niemand hatte mir gesagt, dass der 2. Oktober in Luzern ein Feiertag zu Ehren des Stadtheiligen Sankt Leodegar ist. Das war sozusagen mein Initiationskulturschock.
Sie hatten gerade drei Jahre als Projektleiter der stark umstrittenen Solidaritätsstiftung hinter sich und zuvor neun Jahre als Leiter des Amts für Jugend und Sozialhilfe im Zürcher Sozialdepartement. Letzteres in einer Zeit grosser Herausforderungen wie etwa der offenen Drogenszene. Vermute ich richtig, dass die Luzerner Feiertage nicht das Einzige waren, woran Sie sich erst gewöhnen mussten?
Durchaus, wobei mir die Eingewöhnung leicht fiel, denn ich traf auf ausgesprochen engagierte, kompetente Mitarbeitende und eine gute, lebendige Kommunikationskultur. Aber der Rhythmus einer Hochschule und die Zeiträume, in denen man denkt, waren tatsächlich ungewohnt.
Inwiefern?
Zu meinem Amt in Zürich hatten Verwaltungseinheiten wie etwa die Asylorganisation gehört, die der Dynamik der Ereignisse praktisch monatlich angepasst werden mussten. Hier dagegen versucht man – beispielsweise bei der Entwicklung eines neuen Curriculums – die Bedarfe in zehn Jahren anzupeilen. Bis das Curriculum steht, dauert es zwei bis drei Jahre, dann wird es von den ersten Studierenden durchlaufen, die nach weiteren drei bis fünf Jahren in die Praxis gehen. Zu diesem Zeitpunkt sehen wir am Horizont bereits wieder den nächsten Zehnjahresschritt.
Gleich zu Anfang Ihrer Amtszeit hatte die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit einen besonders grossen Schritt zu bewältigen: die Einführung des Bachelor-Studiengangs im Rahmen der Bologna-Reform.
Ja, das war eine echte Parforce-Leistung, denn wir beschlossen, alles auf einen Schlag umzustellen – also nicht nur die neuen, sondern auch alle bestehenden Studiengänge gleichzeitig. 30 Module waren neu zu entwickeln und aufeinander abzustimmen; auch die Studierenden mussten die Umstellung während des Studiums bewältigen. Das glich dem Auswechseln der Räder am fahrenden Zug und forderte allen Beteiligten einiges ab, ersparte uns aber eine langjährige Übergangsphase.
Trotz der Umstellung wurden – so entnimmt man dem Tätigkeitsbericht 2006 – gleichzeitig neue Weiterbildungsangebote und Kompetenzschwerpunkte entwickelt.
Richtig. Zum Beispiel nahmen wir uns in Zusammenarbeit mit dem Departement Wirtschaft vermehrt des Themas «Soziale Arbeit und Ökonomie» an. Ein Fragenkomplex, der zunehmend an Bedeutung gewinnt und dem wir mit Dienstleistungsangeboten und Forschungsprojekten Rechnung tragen. Auch Stadt- und Regionalentwicklung wurde – und wird weiterhin – immer wichtiger, was sich bei uns ebenfalls in entsprechenden Angeboten widerspiegelt. Ein weiterer Themenkomplex, in dem wir dank langjähriger Expertise an unserer Hochschule wichtige Impulse setzen konnten, ist der Bereich Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. All das und noch einiges mehr in einer Zeit umfassender Reformen aufzubauen oder voranzutreiben, war nur möglich dank des ausserordentlichen Engagements und der grossen Fachkompetenz der Mitarbeitenden.
Gute Mitarbeitende sind angewiesen auf einen guten Vorgesetzten an der Spitze – welches Führungsverständnis hat Sie geleitet?
Ich verstand mich in erster Linie als Führungskraft, nicht als pädagogischer Leiter. Also habe ich mich in fachliche Belange selten eingemischt und meinen Mitarbeitenden stattdessen vor allem Raum gegeben sowie Bedingungen gefördert, die produktives Arbeiten erlaubten. Ich denke, wenn man gute Leute um sich hat, ist dieses Führungsverständnis der Schlüssel zum Erfolg. Es war ein Privileg, mit einem Team zu arbeiten, auf das ich jederzeit vertrauen konnte. Das ermöglichte mir auch die Ausübung zeitintensiver ehrenamtlicher Mandate, unter anderem das Präsidium der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS).
Was andererseits auch dazu führte, dass man die scherzhafte Frage des berühmten Wimmelbuchs «Wo ist Walter?» in den Gängen der Hochschule öfter mal hörte.
Das lustige Buch «Wo ist Walter?» habe ich im Lauf meiner Führungsbiografie mehrmals geschenkt bekommen – und das ist völlig in Ordnung so. Ich denke, wir arbeiten hier mit Expertinnen und Experten, die nicht darauf angewiesen sind, dass ihr Chef sie jeden Tag fragt, wie es ihnen geht. Ständige physische Präsenz und Management by Walking around sind meines Erachtens keine entscheidenden Erfolgsfaktoren. Viel wichtiger sind Gestaltungsfreiräume und Wertschätzung. Ausserdem wussten meine Mitarbeitenden immer, wie sie mich bei Bedarf innert nützlicher Frist erreichen konnten. Und auf Entscheidungen mussten sie kaum jemals lange warten.
Kommen wir zurück auf die Reformprojekte in Ihrer Amtszeit – auf welche sind Sie besonders stolz?
Mit «Rondo» – die Projekte tragen bei uns immer sehr musikalische Namen – erhielt die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit 2010 eine komplett neue Struktur, die sich nicht mehr an Leistungsaufträgen, sondern an fachlichen Themen orientiert. Aus zwei Abteilungen wurden vier Institute und ein Zentrum für Lehre und Professionsentwicklung, die Hierarchie wurde flacher. Sämtliche Teams wurden neu zusammengesetzt, und es gab eine grosse Bürorochade. Am Montag danach war ich sehr froh, zu hören, dass von den tausend am Freitag gepackten Umzugskisten lediglich deren sechs herrenlos herumstanden. Die neue Struktur ist sinnvoll und zukunftstauglich – das Modell wurde inzwischen von zahlreichen anderen Fachhochschulen übernommen.
Die letzte, 2015 abgeschlosse Reform Ihrer Ägide hiess «Vivace» – wie lebhaft war sie?
Sehr lebhaft, denn es ging um nichts weniger als die Rundumerneuerung unseres Bachelor-Curriculums, und mir war es wichtig, an dessen Entwicklung alle Dozierenden zu beteiligen. Zudem wurde in diesem Rahmen auch unsere neue Studienrichtung Sozialpädagogik integriert – als sinnvolle Ergänzung zu den beiden bisherigen Studienrichtungen Sozialarbeit und Soziokulturelle Animation. Das Ganze war ein aufwändiger Prozess, der sich aber aus meiner Sicht sehr gelohnt hat.
Im Lauf Ihrer Amtszeit hat sich die Studierendenanzahl verdoppelt, die vormals von einer Stiftung getragene Hochschule für Soziale Arbeit wurde vollumfänglich in die Hochschule Luzern integriert und verstärkte mit zahlreichen Tagungen und Events ihre öffentliche Präsenz. Eine erfolgreiche Ära also. Gab es auch Rückschläge oder Vorhaben, die weniger gelangen?
Natürlich. Der konsekutive Master-Studiengang, den wir zusammen mit Zürich, St. Gallen und Bern aufbauten, fasst nicht so schnell Tritt, wie wir dachten; immerhin steigen die Studierendenzahlen jetzt langsam langsam an. Was ich sehr bedaure, ist das Scheitern unseres Vorhabens, den zusammen mit der Londoner Westminster University entwickelten Master-Studiengang «International Community Development» fix ins Programm aufzunehmen.
Woran lag das?
Unsere Londoner Partnerin musste nach der ersten Durchführung leider wegen eines massiven Sparpakets aussteigen. Das ist schade, denn diesem Fachgebiet, das bei uns zur Soziokulturellen Animation gehört, hätte der Prestigegewinn gutgetan, und unsere Internationalisierung wäre gestärkt worden. Soziokultur wird hierzulande noch zu wenig in ihrer ganzen Bandbreite gesehen: Sie hat nicht nur mit Jugendarbeit, sondern mit zivilgesellschaftlichem Engagement, Partizipation und der Entwicklung von Quartieren, Städten und Regionen zu tun. Zurzeit läuft bei uns ein Projekt, das dem soziokulturellen Diskurs wieder mehr Schub geben soll.
Gerne hätte ich auch einen Schwerpunkt zum Thema Migration an unserer Hochschule breit verankert, was jedoch nur in Ansätzen gelungen ist. Diesem Bereich werde ich mich aber als Dozent und Projektleiter im Rahmen meines zukünftigen Teilzeitpensums widmen.
Vom Direktor zum Teilzeitmitarbeiter – eine verlockende Perspektive?
Absolut. Zum Unterrichten kam ich als Direktor eher selten, dabei hat mir das immer Spass gemacht; jetzt kann es mehr ins Zentrum rücken. Abgesehen davon bin ich 63 Jahre alt und empfinde es als grosse Chance, mich vor der Pensionierung nochmals neu erfinden zu dürfen. Ich freue mich auf Freiräume für neue Projekte – aber auch auf mehr Zeit fürs Reisen, für Freunde und für meine Familie, zu der inzwischen mehrere Enkelkinder gehören.
Was wünschen Sie der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit für deren Zukunft?
Ich denke, sie ist sehr gut aufgestellt und hat mit den drei Vertiefungsrichtungen im Bachelor-Studium und ihrer grossen Nähe zur Praxis ein klares, weiterhin erfolgversprechendes Profil. Allerdings muss sie sich – vor allem in den Bereichen Weiterbildung und Forschung – in einem immer härter umkämpften Markt behaupten, ist jedoch durch immer engere finanzielle Vorgaben eingeschränkt. Nun drohen von Seiten des Bundes, der Kantone und des Konkordats weitere Sparauflagen, welche in ihrer Summe die Qualität unserer Hochschule ernsthaft gefährden können. Bereiche wie etwa die Forschung brauchen Kontinuität, man kann sie nicht kurzfristig herunter- und wieder hochfahren. Ich hoffe sehr, dass die öffentliche Hand die Einsicht hat, dass es neben dem Sparen noch andere politische Ziele gibt. Luzern ist ein kleiner, aber bisher erfolgreicher Bildungsstandort. Will man ihn erhalten, so muss man ihm ermöglichen, konkurrenzfähig und seinem guten Ruf treu zu bleiben.