von Isabel Baumberger
«Aha – ein Psycho-Ding aus der Abteilung Spür-mich-Halt-mich, dachten viele von uns beim Lesen der Beschreibung des Moduls 030 im Studienführer», sagt die 22-jährige Gemma C., Studierende der Sozialarbeit im zweiten Semester. Da war die Rede von der «Auseinandersetzung mit den eigenen Verhaltensmustern». Es werde «der Fokus auf die Teilnehmenden als Mitglieder der Gruppe gelegt» und gelernt, «Feedbacks zu geben und anzunehmen». Die Vorfreude auf diese obligatorische Blockwoche habe sich in Grenzen gehalten, bekennen etliche von Gemmas Kolleginnen und Kollegen einige Wochen nach dem Ereignis freimütig. Über 90 Studierende, aufgeteilt in drei Gruppen und begleitet von je zwei Dozierenden sowie einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin, waren an einem regnerischen Februarmontag zu verschiedenen Seminarzentren aufgebrochen, um sich dort dem Thema «Arbeiten mit und in Gruppen» zu widmen. Die Stimmung unter jenen 32 Studierenden, die sich in einem Appenzeller Seminarhotel mit dem sinnigen Namen Idyll einfanden, schwankte zwischen Neugier und Skepsis. «Wir waren ein totaler Harmoniehaufen, unser Motto hiess: One Love», sagt der Soziokulturelle Animator in spe Marco P. (26). «Warum also sollten wir uns eine Woche lang mit uns als Gruppe befassen?.»
Die Komfortzone verlassen
Die Modulverantwortlichen Jacqueline Wyss und Peter Stade haben Verständnis für solche Vorbehalte. «Für eine Woche aus dem Alltag gerissen zu werden und sich auf etwas einzulassen, dem man sich nicht bei Unterrichtsschluss um vier Uhr nachmittags bequem entziehen kann, ist zunächst eine Herausforderung», sagt Stade. «Viele erinnert so etwas auch an die Klassenlager aus der Schulzeit», ergänzt Wyss, «und die damit verbundenen Gefühle sind sehr unterschiedlich.» Die beiden Dozierenden sind jedoch überzeugt und begeistert vom neuen Pflichtmodul, das seit 2014 im Rahmen des Schwerpunkts Selbst- und Sozialkompetenz im Curriculum verankert ist. «Gruppendynamische Prozesse und das eigene Verhalten in einer Gruppe zu reflektieren und weiterzuentwickeln, gehört zu den zentralen Fähigkeiten in unserem Beruf», sagt Wyss, die selbst als Soziokulturelle Animatorin tätig war, bevor sie vor zehn Jahren ihre Stelle als Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit antrat. Stade, ebenfalls Soziokultureller Animator und seit 2011 Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, erläutert die Formel, die allen Aktivitäten der Blockwoche zugrunde liege: «A + K = E – Anerkennung plus Konfrontation gleich Entwicklung.» Viele Studierende hätten anfangs Respekt davor, die Komfortzone der allgemeinen Übereinkunft, dass man eine gute Gruppe sei, zu verlassen und Störungen zu thematisieren. «Aber nur so können sie lernen, dass Konfrontation auf konstruktive Art stattfindet und das Austragen eines Konflikts gewinnbringend sein kann», so Stade.
Feedback im «Personality Poker»
Fünf Tage lang erproben die Studierenden in der Idylle des Hotels Idyll, was sie vorgängig an Fachliteratur gelesen haben – mit sich selber als «Arbeitsmaterial». Bei der Wahl der studentischen Ansprechpersonen für die Dozierenden, beim «Blind Walk», in dem die Gruppe sich so organisieren muss, dass sie mit verbundenen Augen vollzählig ins nahe gelegene Hotel zurückfindet, oder beim Kartenspiel «Personality Poker», in dem nach strengen Regeln Feedback geübt wird: Stets geht es in dieser Woche darum, «Prozesse, Muster und Normen in der Gruppe und bei sich selbst zu erkennen und aus dem Nachdenken darüber neue Verhaltensmöglichkeiten für die Zukunft abzuleiten», erklärt Wyss.
Einfühlsam und konfliktfähig sein
«Die Praxisorganisationen, die zukünftigen Arbeitgeber, erwarten von unseren Studierenden neben Fach- und Methodenkenntnis auch ein hohes Mass an Selbst- und Sozialkompetenz», sagt Daniel Krucher, seit August 2015 Leiter des Zentrums für Lehre und Professionsentwicklung an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. «Fachpersonen aus unserem Arbeitsfeld haben mit sehr unterschiedlichen Einzelpersonen, Gruppen und Kulturen zu tun. Sie müssen verantwortungsbewusst, belastbar und konfliktfähig sein, sich in Spannungsfeldern bewegen und einfühlsam mit allen Anspruchsgruppen umgehen können», so der 51-jährige Sozialarbeiter mit Doktortitel in diesem Fachgebiet. «Das erfordert bewusste Kommunikation und die Fähigkeit, eigene Verhaltensweisen zu reflektieren.» Deshalb habe «die Förderung von Selbst- und Sozialkompetenz im neuen Bachelor-Curriculum explizit mehr Gewicht erhalten», sagt Pia Gabriel, Vizedirektorin und Leiterin des Instituts für Sozialpädagogik und Bildung. Sie war bei der Entwicklung des neuen Curriculums – damals noch als Leiterin des Zentrums für Lehre und Bildung – federführend gewesen. Den neuen Schwerpunkt hatte man im Nachgang zur Bologna-Reform für notwendig befunden. «Die heutige Modularisierung und Flexibilisierung des Studiums hat neben unbestrittenen Vorzügen den Nachteil, dass frühere Möglichkeiten zur kontinuierlichen Begleitung der Studierenden im Rahmen fester Klassenverbände weggefallen sind», so Gabriel. «Dafür gibt es nun die neuen Lernsettings wie Blockwochen und Studienreisen sowie Fallwerkstätten, in denen die Studierenden ein ganzes Semester lang in der gleichen Gruppe unter Anleitung Fälle aus der eigenen Praxis besprechen.» Gabriel und Krucher betonen, dass sich die Entwicklung von Selbst- und Sozialkompetenz durch das ganze Studium ziehen soll. Mit der Blockwoche zum Thema «Arbeiten in Gruppen» würde dazu die Grundlage gelegt.
Rollen bewusst wahrnehmen und ausprobieren
Und was denken die Studierenden zwei Monate nach der Blockwoche, die sie eher skeptisch begonnen hatten? «Wir alle haben viel daraus mitgenommen», glaubt Gemma C. «Ich zum Beispiel nehme viel klarer wahr, wie viele Missverständnisse durch unsorgfältige Kommunikation entstehen können.» Auch ihr Umgang mit Gruppen habe sich verändert, meint die 22-Jährige: «Heute suche ich mir nicht mehr unbedingt die Leute aus, die mir am sympathischsten sind, sondern die, von denen ich am meisten lernen kann – auch wenn das die Gruppenarbeit anspruchsvoller macht.» Sie habe ein Bewusstsein für verschiedene Rollen entwickelt, die man einnehmen könne, sagt Leila M. (22), Studierende der Sozialarbeit. «Je nach Konstellation kann ich mal führen, mal mitlaufen oder mich im Hintergrund halten. Heute probiere ich diese Verhaltensweisen bewusst aus.»
Marco P. schliesslich berichtet, dass der «Harmoniehaufen» seiner Klasse im Lauf der Blockwoche etwas auseinandergefallen sei. Denn es habe sich herausgestellt, dass sich im vermeintlichen Wohlfühlklima einige gar nicht wohl fühlten: «Wir haben zum Teil sehr unterschiedliche Ziele und Arbeitsweisen. Die einen wollen Arbeiten möglichst schnell abschliessen, andere wollen sich voll auf Themen einlassen und so viel wie möglich lernen – das ergibt Reibungen. Ich finde es super, dass diese Unterschiede jetzt offen auf dem Tisch sind, aber wir müssen den Umgang damit noch herausfinden. Der Prozess ist noch nicht zu Ende.»
Das Bachelor-Studium an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Der Bachelor-Studiengang in Sozialer Arbeit bietet eine wissenschaftlich fundierte und praxisorientierte Ausbildung, die zur Berufsbefähigung führt. Das Studium ist modular aufgebaut und besteht im Wesentlichen aus dem Grundstudium, welches das Basiswissen für alle Bereiche der Sozialen Arbeit vermittelt, und dem Hauptstudium in einer der drei Vertiefungsrichtungen Sozialarbeit, Soziokultur oder Sozialpädagogik. Die Hochschule Luzern ist die einzige Fachhochschule in der Deutschschweiz, die für diese drei Studienrichtungen ein je eigenes Profil anbietet.
Das Grundstudium, zu dem unter anderem die extern durchgeführte Blockwoche «Arbeiten in Gruppen» gehört, absolvieren die Studierenden im Klassenverband. Danach gestalten sie ihr Studium flexibel und arbeiten in verschiedenen Gruppen zusammen.
Ein zentraler Teil des Studiums ist die Praxisausbildung, die einen längeren Einsatz im gewählten Berufsfeld und ein selbstständig durchgeführtes Praxisprojekt beinhaltet.