«Die Gemeinden stehen unter Druck»
Mehrere Ortschaften im Kanton Luzern wollen derzeit ihren Dorfkern aufwerten. Ein Experte weiss, wieso.
Interview: Fabienne Mühlemann
Ufhusen, Flühli, Buchrain, Ruswil, Hitzkirch, Grosswangen oder auch beispielsweise Buttisholz: Die Dorfkernaufwertung ist im Trend – das bestätigt die kantonale Dienststelle Raum und Wirtschaft. André Duss, Projektleiter Raumentwicklung, führt dies auf die Revision des Raumplanungsgesetzes zurück. Denn eine Folge dieser ist, dass in vielen Gemeinden derzeit die Revision der Ortsplanung läuft. Mit den am 1. Mai 2014 in Kraft getretenen Änderungen wurde gefordert, dass die Siedlungsentwicklung nach innen gelenkt werden soll und kompakte, qualitätsvolle Siedlungen zu schaffen sind. «Mittlerweile sind die Gemeinden viel sensibilisierter auf die Entwicklung nach innen und haben dies als eine ihrer Kernaufgaben wahrgenommen», so Duss.
Neben der gesetzlichen Grundlage sei der Trend zur Entwicklung des Dorfkerns auch auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zurückzuführen. «Viele Dorfkerne haben Probleme mit dem Verkehr, kämpfen gegen das Beizen- und Ladensterben und es fehlen attraktive Frei- und Aufenthaltsräume. Die Bevölkerung will, dass in dieser Hinsicht eine Verbesserung stattfindet», sagt Duss. Peter Schwehr, Dozent an der Hochschule Luzern – Technik und Architektur sowie Stadtentwicklungskolumnist für unsere Zeitung, nimmt im Interview Stellung zur Dorfkernaufwertung.
Peter Schwehr, wie sieht ein «gelungener» Dorfkern aus?
Peter Schwehr: Das ist abhängig vom Ort. In meinem Verständnis trägt der Dorfkern zur Identität einer Gemeinde bei. Er verbessert das Zusammenleben, schafft einen Mehrwert für die Einwohner und macht die Gemeinde attraktiv. Dies soll verhindern, dass die Menschen vom Land in die Stadt oder in eine andere Gemeinde ziehen.
Die Abwanderung in die Stadt ist vielerorts ein Thema.
Ja, denn die Stadt ist aufgrund des Angebotes und der kurzen Wege als Wohnort attraktiv. Ich kenne Dörfer, die haben nicht mal mehr einen Tante-Emma-Laden, ein Café oder eine Post. Daher stehen diese Gemeinden unter Druck. Es ist sehr wichtig, dass sie eine Gegenbewegung zur Abwanderung starten können – daher erneuern viele Gemeinde derzeit den Dorfkern.
Wie kann man die Dorfmitte wiederbeleben?
Die Motivation für eine Veränderung muss von den Bewohnern kommen. Jeder Ort hat eine eigene Charakteristik mit spezifischen Anforderungen an den neuen Dorfkern. Es ist wichtig, dass diese Prozesse mit den Betroffenen gemeinsam geführt werden. Dadurch entsteht Engagement und Identität. Bürgerbeteiligung heisst aber nicht, einen Wunschzettel ausfüllen zu lassen.
Für neue Dorfkerne müssen allenfalls Häuser weichen oder Strassen umgestaltet werden. Ist dies machbar, wenn heutzutage jedes kleine Bauprojekt Einsprachen mit sich bringt?
Auch deshalb müssen die Betroffenen eingebunden werden. Die Aushandlungsprozesse erfordern Zeit und Geduld. Wünschenswert wäre es, wenn auf Abriss und grosse Eingriffe verzichtet werden könnte. Denn häufig geht damit baukultureller Wert und Identität verloren. Wenn möglich, sollte das Prinzip des Weiterbauens im Sinne einer qualitätsvollen Innenverdichtung prioritär geprüft werden. Doch häufig wird bei der Planung die Systemgrenze nur um das Verwaltungsgebäude im Dorfkern gezogen und die Gemeinde als Ganzes nicht berücksichtigt. Ein guter Dorfkern macht noch keine gute Gemeinde.
Nehmen wir als Beispiel Ufhusen mit rund 900 Einwohnern. Kann dort aufgrund der eher kleinen Bevölkerungsanzahl ein belebter Dorfkern entstehen?
Ich kenne den Dorfkern von Ufhusen leider nicht. Kleine Gemeinden verfügen häufig über geringere Ressourcen und sind einer grösseren Gefahr, zur Schlafgemeinde zu mutieren, ausgesetzt. Dennoch denke ich, dass die Grösse nicht ausschlaggebend ist. Das Bedürfnis nach Zusammenleben und Austausch ist nicht von der Grösse abhängig. Schlussendlich ist die Dorfkernentwicklung auch eine Frage der Angemessenheit. Man muss nicht in jeder Gemeinde die grossen Veränderungen machen, auch kleine Massnahmen können wirksam sein.
Bleiben wir bei Ufhusen. Dort gibt es seit 2019 kein Restaurant mehr, also auch keinen Ort, wo sich Vereine oder Freunde treffen können.
Meiner Ansicht nach braucht es nicht unbedingt das grosse Restaurant. Man kann auch andere Ort schaffen, wo die Menschen zusammenkommen können, wie zum Beispiel selbstverwaltete Räume oder einen Mittagstisch. Klar, mit einem Restaurant kommen allenfalls auch Gäste von ausserhalb. Doch das dient nicht primär dem Ziel, die soziale Interaktion innerhalb der Gemeinde zu stärken.
Welche Rolle spielt die Coronapandemie bei der Dorfkernaufwertung?
Zum Beispiel hat der Onlinehandel durch die Coronapandemie grossen Aufschwung erhalten. Das Einkaufsverhalten der Leute hat sich verändert. Inhaber von kleinen Läden stehen noch mehr unter Druck. In vielen Gemeinden sieht man, dass Ladenflächen in grosser Anzahl leer stehen. Die Gefahr besteht, dass eine fussnahe Versorgung mit dem Wichtigsten nicht mehr gewährleistet ist. Dabei geht auch soziale Interaktion verloren. Die Dörfer müssen sich überlegen, wie sie durch die Erhöhung der eigenen Attraktivität dem Onlinehandel ein entsprechendes Angebot entgegensetzen können.
Und welchen Einfluss hat Homeoffice?
Wegen Corona arbeiten viele von zu Hause aus. Wenn in den Dörfern geeignete Coworking-Spaces vorhanden wären, würden wir unsere Nachbarn nicht nur bei den Elternabenden sehen und die private Wohnung wäre auch entlastet. Denn Corona zeigt, wie wichtig Nachbarschaft ist. Ein belebter Dorfkern als öffentlicher Raum, mit einem «Village-Office» oder einem Nachbarschaftstreff, könnte den Austausch initiieren und unterstützen.
Was sind weitere Herausforderungen, die bei der Siedlungsentwicklung nach innen auf die Gemeinden zukommen?
Das sind ganz klar finanzielle Aspekte und das Denken in neuen Lösungen. Eine Aufwertung des Dorfkerns ist ein längerer und ressourcenintensiver Prozess. Dabei müssen wir uns von gängigen Nutzungsvorstellungen und Vorschriften lösen können. Wenn das Dorfcafé am fehlenden Parkplatz scheitert, ist was falsch gelaufen. Die Gemeinden kommen letztlich nicht umhin, einen Mehrwert für die Einwohner zu schaffen. Es gilt, die drohende Abwärtsspirale bestehend aus Wegzug und Wegfall von Steuergeldern rechtzeitig zu stoppen. Neben einer starken Stadt sollen auch weiterhin starke ländliche Gemeinden existieren können.
Erschienen in der Luzerner Zeitung, S. 24, 10. Oktober 2020