Die Menschen werden Mobilität als Gesamtservice verstehen und nicht mehr als Einzelleistung.
Sie entwickeln ständig neue Angebote. Manche werden harsch kritisiert, der Swisspass etwa. Haben Sie diesen zu früh gebracht?
Nein. Es war der richtige Moment, auf die Digitalisierung aufzusteigen und eine einheitliche Kontrolllösung für die ganze Schweiz zu definieren. Wenn wir das nicht gemacht hätten, hätten das andere gemacht und das integrierte Ticketsystem wäre mittelfristig in Gefahr geraten, auseinanderzubrechen. Die SBB sind ein sehr starkes Unternehmen, aber in den letzten fünf, zehn Jahren hat sich das «Mobilitätsökosystem» und damit verbunden das Konkurrenzumfeld stark verändert. Um Mobilitätsfragen kümmern sich nun auch Telekomfirmen und weitere Anbieter im digitalen Umfeld. Sie alle wollen die Kunden für ihre Lösungen gewinnen. Das Rennen läuft nicht nur physisch, wo es um das konkrete Mobilitätsangebot geht, sondern auch digital, wo es verkauft wird und die Kundeninformation stattfindet.
Es hat die Nase vorn, wer den Kontakt zum Kunden hat?
Richtig. Als SBB wollen wir die Kundenschnittstelle behalten. Das geht weit über den Billettverkauf, das «Ticketing», hinaus. Wir wollen Kunden zeitnah informieren können, etwa über einen Störungsfall oder darüber, wo noch freie Plätze im Zug zu finden sind. Der direkte Kontakt ist die Voraussetzung dafür, Kunden zu verstehen und individuell ansprechen zu können.
Dafür müssen die SBB auf Daten zugreifen können. Nach der Intervention des Datenschützers heisst es nun: zurück auf null. Was bedeutet das?
Als öffentliches Unternehmen sind wir massiv mehr medialem Druck und auch höheren Ansprüchen an Datenschutz ausgesetzt. Die Swisspass-Daten, die bei der Kontrolle anfallen, dürfen wir nun nicht einmal 24 Stunden aufbewahren. Der Lebensmittelhändler weiss viel mehr über seine Kunden und was sie einkaufen, Internetfirmen aus Übersee kennen den Standort ihrer Nutzer und deren Verhalten heute schon viel genauer. Das ist die Realität.
Mit ausgewählten Kunden, die ihre Daten zur Verfügung stellen, starten Sie mit den Partnern BLS und Postauto nun einen Pilotversuch. Worum geht es da?
Wir testen eine automatische Reiseerfassung, das heisst: Generalabo-Komfort für Gelegenheitsnutzer. Am Monatsende wird abgerechnet. Wir stützen uns dabei auch auf Apps von Partnern und wollen diese weiterentwickeln.
Denken Sie, dass die Masse der Passagiere in den nächsten zehn Jahren eine automatische Erfassung akzeptiert?
Wir sind in einer Übergangsphase und werden vermutlich über einen längeren Zeitraum verschiedene Systeme nebeneinander laufen haben. Die Gewohnheiten der Menschen sind sehr unterschiedlich. In der Londoner Metro etwa ist das System des Check-in und Check-out etabliert. Technologisch ist das eine gute Lösung, für die Schweiz ist sie undenkbar. Wir haben ein sehr offenes System: Die Leute können spontan den Zug nehmen, den sie wollen, sie steigen irgendwo ein – es gibt kein Gate, das den Zugang zum Bahnhof kontrolliert. Das sind alles Dinge, die wir berücksichtigen müssen in der Entwicklung neuer Systeme des «Ticketings».
Wie stark sind die SBB von technischen Entwicklungen getrieben, werden vielleicht manchmal sogar überholt?
Beim Thema App-Entwicklung müssen wir schauen, dass wir ausreichend schnell sind. Die Apps sind jedoch nur die eine Seite der technologischen Entwicklung. In unserem Kerngeschäft, dem Eisenbahnnetz, sind wir als Technologieunternehmen auch treibend, etwa bei der Einführung der Führerstandsignalisierung ETCS, des «European Train Control System».
Welche Vorteile bringt dieses System – bemerken die Kunden etwas davon?
Im heutigen Zugsicherungssystem fährt der Lokführer von Signal zu Signal. Diese Abschnitte sind unterschiedlich lang. Mit ETCS können sich Züge dynamisch folgen, die Fahrinformation wird direkt auf den Führerstand projiziert. Das erhöht zum einen die Sicherheit, ermöglicht zum anderen aber auch eine dichtere Abfolge der Züge. Die Kapazität der Strecken kann also stärker ausgereizt werden – eine wichtige Voraussetzung auch für Pünktlichkeit.
Selbstfahrende Autos, Fortschritte bei der Automatisierung des Zugverkehrs – wie lange wird es da noch Lokführer brauchen?
Unser Netz ist das dichteste der Welt. Es wird durch Regionalverkehr und Güterverkehr sowie durch Rangierzüge und Bauzüge verlangsamt. In diesem komplexen System einen Zug zu fahren, lässt sich in keiner Weise mit dem Fahren auf einer Metro-Linie vergleichen. Lokführer wird es noch sehr lange brauchen, um das System zu managen, Impulse zu setzen. Wie ihr Berufsbild in vielen Jahren einmal aussehen wird, können wir heute jedoch noch nicht abschätzen.
Interview: Sigrid Cariola
Fotos: Raffael Waldner
Wie fahren wir 2030 Bahn?
Sie werden sich nicht mehr um Ihre Mobilität kümmern müssen. Ein Beispiel: Sie wollen Ihre Freundin besuchen. Ein selbstfahrendes Fahrzeug holt Sie zu Hause ab und bringt Sie zum nächsten Bahnhof. Dort kaufen Sie noch ein Geschenk – wo Sie den passenden Laden finden, sagt Ihnen eine App. Sie nehmen den Fernverkehrszug und werden an Ihrer Ausstiegsstation von einem kleinen selbstfahrenden Bus abgeholt, der Sie bis vor die Tür Ihrer Freundin bringt.
Wir denken also nicht mehr vom Verkehrsmittel her?
Wir werden Mobilität als Gesamtservice verstehen und nicht mehr als Einzelleistung.
Welche Rolle spielt die Digitalisierung in dieser Entwicklung?
Applikationen werden verschiedene Verkehrsmittel vernetzen und Informationen dazu in Echtzeit miteinander verknüpfen. Fällt etwa wegen Stau oder einer Störung auf einer Strecke ein Teilchen aus dem «Mobilitätspuzzle» heraus, können Sie blitzschnell Alternativen aufgezeigt bekommen.
Welche weiteren Faktoren beeinflussen die Mobilität der Zukunft?
Neben technischen Entwicklungen spielen auch gesellschaftliche Veränderungen eine Rolle. Etwas zu besitzen, zum Beispiel ein Auto, verliert an Bedeutung. Wichtiger wird es sein, einen Gegenstand oder eine Dienstleistung auf Zeit zu nutzen. Unter dem Stichwort «Sharing Economy» haben sich neue Dienste entwickelt, mit denen etwa Autobesitzer zwischendurch zu Autoverleihern werden.
Was bedeutet das für die SBB?
Wenn sich «Sharing» von Fahrzeugen durchsetzt, könnte dies dazu führen, dass viele ihre Autos verkaufen und mehr den ÖV nutzen werden. Bei den selbstfahrenden Fahrzeugen rechnen wir auch mit induziertem Verkehr. Heute müssen insbesondere Kinder, ältere oder mobilitätseingeschränkte Menschen auf manche Reisen verzichten, weil die erste und letzte Meile ein Problem darstellt. Mit selbstfahrenden Fahrzeugen können sie problemlos von der Haustür bis zum Bahnhof und zurück transportiert werden. Das kann bedeuten, dass die Zahl der Fahrgäste für die Bahn zunimmt.
Gibt es auch ein negatives Szenario, etwa, dass sich diese Fahrzeuge als «intelligenter» Schwarm bewegen und es gar keine Bahn mehr braucht?
Ein Szenario ohne die Eisenbahn ist nicht vorstellbar – auch deswegen, weil die Infrastrukturkapazitäten auf der Strasse nicht ausreichen werden, um die gesamte Mobilitätsnachfrage in der Schweiz abzuwickeln. Insbesondere bei Verbindungen von Zentrum zu Zentrum hat die Bahn einen klaren Wettbewerbsvorteil. 1’400 Menschen pünktlich in die nächste Stadt zu fahren, das ist eine Stärke der Eisenbahn. In ländlicher Gegend ist es punktuell vorstellbar, dass selbstfahrende Flotten von Autos und Bussen bestehende ÖV Angebote ersetzen werden.
Als öffentliches Unternehmen sind wir höheren Ansprüchen an den Datenschutz ausgesetzt.